»Alles ganz anders sehen«. Hommage an das Multitalent Walter Stötzler

Siegmund Baldszun

Er ist Russischlehrer, ich unterrichte Französisch und er ist viel länger an der Uhlandshöhe in Stuttgart als ich. In meinem Kopf machte sich ein Durcheinander an Fragen, Vermutungen, Erinnerungen und Bildern breit. Und ich beschloss, alles zu ordnen und es aufzuschreiben – am besten in Tagebuchform.

In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum.

Dienstag 5. Juni, 2.33 Uhr:

Ich stehe allein auf der Uhlandshöhe, es gewittert, Sturm bricht an und eine gewaltige Stimme ruft mir die ultimative Frage zu: Walter Stötzler? Wer ist Walter Stötzler? – Ich soll antworten, aber ich weiß die Antwort nicht. Schweißgebadet wache ich auf und beschließe, am nächsten Tag dieser Frage nachzugehen. Am besten im Archiv der Schule. Am Mittwoch suche ich im Archiv, finde aber nichts, was passt.

Donnerstag, 7. Juni, 2.54 Uhr: 

Gerade im Traum in Berlin gewesen. In der Motzstraße, Rudolf Steiners Berliner Wohnung und Ort des ersten anthroposophischen Verlages. Unglaublich: Am Mittagstisch sitzen Johanna Mücke (die Verlagsleiterin), Rudolf Steiner und ... Walter Stötzler. Angeregte Unterhaltung und – sie spielen Mäxle. Steiner gewinnt mit 203 Punkten. Nachher fragt Stötzler, ob Steiner nicht nach Stuttgart zu einem Vortrag kommen wolle. Ja, sagt Steiner, es müsse aber schon ein kleiner Zyklus sein.

Neiderfüllt wache ich auf und beschließe, dem nachzugehen.

In der Tat: Walter Stötzler war in Berlin und besuchte das berufsbegleitende anthroposophisch-pädagogische Tradowski-Seminar und wohnte wirklich in der Motzstraße in jenem besagten Haus! Später besuchte er auch das Lehrerseminar in Stuttgart. Daher die tiefere Verbindung zur Anthroposophie. – Ich bekomme einen Verdacht und schlage in der Gesamtausgabe nach. Band 203: »Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt«; 18 Vorträge gehalten in Stuttgart, Dornach und Den Haag, 1921. Ach, deshalb das Passwort, mit dem wir immer den Stundenplan von ihm zugemailt bekommen – die Punkte beim Mäxlespiel, der Zyklus, Stuttgart und die Verantwortung des Menschen ...

Samstag, 7. Juli, 3.12 Uhr: 

Ich bin zu Besuch bei einer Familie in Freiburg. Plötzlich kommt die kleine Sonja Geier, unsere heutige Russischlehrerin, ganz süß, im Kleidchen. Es klingelt und sie läuft zur Tür: »Mama, Onkel Walter ist gekommen, Walterchen.« 

In der folgenden Woche erfahre ich, dass Walter Stötzler tatsächlich in Freiburg Russisch studiert hat zusammen mit seiner Frau Inge. Er war oft zu Gast im Hause Geier. 

Swetlana Geier, die Frau mit den fünf Elefanten, die geniale Dostojewski-Übersetzerin.

Spät abends im Bett überlege ich, ob ich nicht doch gleich Stötzlers Biografie schreiben soll. Wie soll ich das alles in der letzten Konferenz vor den Ferien unterbringen?

Montag, 9.Juli, 4.23 Uhr: 

Angsttraum. Panik: Eine schwarze Dienstlimousine des Stuttgarter Regierungspräsidiums kommt auf den Schulhof gefahren. Frau Brändle vom Geschwister-Scholl-Gymnasium steigt aus und fragt nach Walter Stötzler, er solle Präsident des Regierungspräsidiums werden, betraut mit sämtlichen Abitursangelegenheiten der Waldorfschulen in Deutschland.

Ich wache schweißgebadet auf: Das kann nicht sein. Es musste sich um Baden-Württemberg handeln!

Aber in der Tat. Die geniale Art, mit der Walter Stötzler als Abiturbeauftragter unserer Schule die staatlichen Prüfer und Vorsitzenden ansprach und führte, die kluge und sozial befriedende Art, mit der er unsere internen unterschiedlichsten Wünsche und Überzeugungen in Lehrerschaft und Verwaltung konsensfähig zusammenhielt, war ein Segen für die kompliziertesten Abläufe an der Schule. Ein Segen und auch ein sprechendes Bild für sein Wirken bei uns.

Donnerstag, 12. Juli, 4.35 Uhr: 

Wo bin ich? Was passiert da? Unsere Englischlehrerin und Öffentlichkeitsbeauftragte Frau Kötter-Hahn steht strahlend an der Liederhalle, dem Ort, an dem die große Hundertjahrfeier stattfinden wird: Eine unendlich lange Schlange von Uhlandshöhe-Schülern von Klasse 1 bis 13 steht bis zum Eingang der Halle – das sind ja immerhin ein paar Kilometer – die Schüler halten sich an den Händen und singen »Mnogoe leto«, den russischen Geburtstagsschlager der Uhlandshöhe. 

Alles ehemalige Schüler von Walter Stötzler, der gerade mit dem Fahrrad auf dem Berliner Platz im Kreis fährt und dirigiert. Dazu muss man wissen: Walter Stötzler fährt immer Fahrrad. Anders kennt man ihn nicht.

Am Nachmittag wird mir von den älteren Kollegen bestätigt: Der Russischlehrer, das war es ja, wofür Walter Stötzler von Generationen von Schülern geliebt wurde, sein origineller ganz persönlicher Waldorf-Stil, unvergesslich.

Samstag, 21. Juli, 4.56 Uhr:

Flash in die Zukunft: Ich bin mit dem Auto unterwegs zur Schule, zur Schlusskonferenz. Ich parke auf der Haußmannstraße rückwärts ein. Walter Stötzler steht am Straßenrand und hilft mir. Er fragt durchs Fenster, ob ich nicht lange genug Eurythmie gemacht hätte, denn es sei doch erforscht, dass Eurythmieunterricht im Schulalter später das Rückwärtseinparken erleichtere. Bei der Monatsfeier an jenem Samstag stelle ich fest, dass Walter Stötzler diese seine These bei der Ansprache öffentlich gemacht hat.

Ja, Walter Stötzler und seine Ansprachen: Was haben wir nicht alles ihm zu verdanken an Schmunzeln, an Lachen, an In-den-Spiegel-Schauen: beim Bazar, bei Feiern, in Konferenzen. Wie er uns immer wieder zeigte: Seht mal, man kann die Dinge doch ganz einfach ansprechen, ohne den waldorfmoralischen-anthroposophischen tiefen Anspruch. 

Sonntag, 22. Juli, 4.58 Uhr: 

Ein Feuer im Wald. Drum herum tanzen Walter Stötzler und unser mathematischer Kopf Christoph Kühl. Sie werfen kleine beschriftete Magnettäfelchen in die Luft und fangen sie auf einer großen Platte wieder auf und rufen dabei: »Ach wie gut das niemand sieht, wie der Stundenplan entsteht.«  – Ich will dazu laufen und ihnen sagen, dass ich so dankbar bin 

für die vielen Stundenpläne, dass aber der Reim nicht stimmt, da wache ich auf. Schnell zum Bücherregal. Die GA 203 herausgezogen. Erster Vortrag: Stuttgart, 1. Januar 1921: Da geht es um die zweifache Weihnachtsverkündigung – von den Königen und den Hirten. Die Könige erhielten die Kunde aus den Sternenkonstellationen als spirituelle Mathematik, die Hirten aus der Erdenoffenbarung. Stötzler und die Weihnachtsspiele. Das war die geheime Botschaft für mich aus der GA 203. Und ich habe es die ganzen Jahre nicht gemerkt! Was haben wir gelacht bei den Proben, sehr zum Leidwesen der Regisseure. Stötzler konnte alle Rollen, da er außer Eva wohl schon alle einmal gespielt hatte. Sein Lieblingsbuch war ja das berühmte Spiele-Buch der Schule, in dem stand, wer seit 1919 was gespielt hatte.

Eine Anekdote noch: Er Teufel, ich Herodes. Der Pagi sammelt nach der Anbetungs-Szene feierlich-fromm alle Geschenke der Könige auf, ein riesiger Berg in den Armen, der beständig zu fallen droht. Stötzler auf Schwäbisch: »Wer z’faul isch muss überlaade!«

Montag, 23. Juli, um Mitternacht:

Ich muss meine Abschiedsrede entwerfen! Im Festsaal höre ich deklamieren: Walter Stötzler spielt das Drei-Königsspiel-Spiel allein, alle Rollen. Fräulein Nestel – eine frühere, langjährige, sehr originelle Handarbeitslehrerin – überreicht lächelnd das jeweilige Kostüm.

Dienstag, 24. Juli, 5.07 Uhr: 

Ich folge einer Einladung ins Cusanus Haus, das Stuttgarter anthroposophische Altenpflegeheim, und will unsere Deutsch­koryphäe Frau Bischoff fragen, ob sie mir bei der Verabschiedungsrede hilft. Sie lehnt ab aus dem Grund, dass sie selber auch nie verabschiedet wurde – was natürlich nicht stimmt. Als ich rausgehe, höre ich im obersten Stock, in der Steiner-Suite, fröhliches Gelächter und angeregte Gespräche: Als ich hochkomme, sehe ich alle ehemaligen Kollegen der Uhlandshöhe und Walter Stötzler. Sie heben die Gläser und stoßen an. Worauf denn, will ich fragen, aber die fröhlichen Rentner beachten mich nicht. An der Wand steht eine große »Hannoversche Kasse«. Ich sehe nur noch, wie ein älterer Herr, der unserem Geschäftsführer verblüffend ähnlich sieht, ein neues Tablett mit alkoholfreiem Rosen-Sekt 

hereinträgt. Er flüstert mir etwas zu von Vorstand damals und neuer Altersversorgungsordnung. Ich wache auf. Klar, Walter Stötzler hat jahrelang mitgearbeitet im Vertrauenskreis, im internen Montagskreis, im Vorstand und in der Gehalts-Kommission. Und war natürlich maßgebend bei der Entwicklung unserer (seiner, wie ich im Traum feststellen musste) neuen Altersversorgungsregelung. 

Mittwoch, 25. Juli, letzter Schultag, 6:00 Uhr morgens:

Der Wecker klingelt. Ich renne zum Schreibtisch und betrachte meine dicht beschriebenen Blätter, die ich in dieser Nacht als Manuskript vorbereitet habe. 54 Seiten. Ich beschließe, einen Termin beim Verlag Freies Geistesleben zu machen und Herrn Lin eine Stötzler-Biografie vorzuschlagen. Titel: Man kann das alles auch ganz anders sehen!

Dann nehme ich mein Tagebuch und gehe zur Schule. 

Ich werde einfach aus diesem Buch vorlesen.

Zum Autor: Siegmund Baldszun ist Französischlehrer an der FWS Uhlandshöhe.