Alles gut?

Henning Kullak-Ublick

Im Januar dieses Jahres wurde die grüne Bundespartei 33 Jahre alt. Ein äußerst bunter Strauß von Umwelt- und Friedensbewegten, Feministinnen, Linken, Spontis, Landkommunarden, Stadtindianern, Anthroposophen, Sylvio-Gesell-Anhängern und Späthippies gründete 1980 diese »Anti-Parteien-Partei«, um der Vielfalt des gesellschaftlichen wie auch des ganz wörtlich gemeinten Lebens endlich eine parlamentarische Stimme zu geben. Für die Parteienlandschaft war das eine Revolution; für den Geist, der durch diese Bewegungen wehte, ein Opfer, denn das Korsett, in welches er gezwängt wurde, war, wie sich zeigte, allzu eng. Er muss ja wehen, wo er will. Eine Generation später sind die Ideen der damaligen Zeit zum Mainstream geworden. Wurde den ersten Grünen noch nachgesagt, sie wollten auf die Bäume zurück, beschwört heute eine Kanzlerin die Energiewende, jeder Supermarkt verkauft Bio- und Fair-Trade-Produkte, Schwule und Lesben dürfen Kinder adoptieren, es gibt Fahrradwege und eigentlich ist Claudia Roth ja doch ganz cool. Alles gut also?

Vielleicht sollte ich hier lieber aufhören. Aber 1978 schrieb Vaclav Havel in seinem Versuch, in der Wahrheit zu leben: »Es gehört zum Wesen des posttotalitären Systems, dass es jeden Menschen in seine Machtstruktur einbezieht. Freilich nicht darum, dass er in ihr seine menschliche Identität realisiert, sondern darum, dass er sie zugunsten der ›Identität des Systems‹ aufgibt, dass er zum Mitträger der allgemeinen ›Eigenbewegung‹, zum Diener ihres Selbstzwecks wird, damit er sich an der Verantwortung für diese ›Eigenbewegung‹ beteiligt, damit er in sie hineingeschleppt und mit ihr verflochten wird, wie Faust mit Mephisto. Nicht nur das – damit er durch diese Verflochtenheit die allgemeine Norm mitformt und auf seine Mitbürger Druck ausübt. Noch mehr – damit er sich in dieser seiner Verflochtenheit einnistet, damit er sich mit ihr identifiziert, als sei sie etwas Selbst­verständliches und Notwendiges, damit er schließlich von allein seine eventuelle Nichtverflochtenheit als Abnormalität, als Frechheit, als einen Angriff gegen ihn selbst, als … ›Isolierung von der Gesellschaft‹ betrachtet. Indem das posttotalitäre System auf diese Art alle in seine Machtstruktur einbezieht, macht es aus ihnen Instrumente der gegenseitigen Totalität …«

Mit heutigen Augen erkenne ich in diesem Text die Wirkungsweise einer immer absoluter auftretenden politischen Korrektheit, die sofort ächtet, wer sich ihren Abgrenzungsritualen nicht unterwirft. Möge der Geist, nachdem sich unser Bewusstsein genügend geschärft hat, wieder wehen, wo er will. In dem Gedicht eines siebzehnjährigen Mädchens fand ich eine Ergänzung der berühmten Paulus-Worte »Glaube, Hoffnung, Liebe«, die ich uns allen in die Sommerferien mitschicken möchte: »... und Mut!«

Henning Kullak-Ublick, von 1984–2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)