»Alles könnte anders sein!«

Günther Dellbrügger

Eine offene Gesellschaft freier, initiativer Menschen – das ist das Leitmotiv des Kultur- und Bildungsprojekts TONALi. Amadeus Templeton und Boris Matchin, beide erfolgreiche Cellisten, haben es 2010 ins Leben gerufen.

Ausgangspunkt von TONALi war die nüchterne Feststellung, dass einerseits das Konzertpublikum immer älter wird, andererseits eine Entfremdung zwischen dem klassischen Musikbetrieb und der heutigen Schüler- und Jugendgeneration nicht zu leugnen ist. Was tun? In der Antwort auf diese Frage liegt der Keim des TONALi-Projekts: Wir müssen alles um die Musik herum neu erfinden: Die Konzertformen, die Sprache, die Möglichkeiten aktiver Beteiligung; klassische Musik so präsentieren, dass junge Leute sie als Entwicklungsraum für sich entdecken können; eine Situation schaffen, in der sich junge Menschen öffnen und untereinander neu begegnen können.

Schülermanager werden

Durch TONALi geht ein frischer Wind. Jeden Donnerstag ist im Büro Offline-Tag, Ideenküche, um wieder frischen Wind hereinzulassen.

Das Motto »Alles könnte anders sein« – aus den zwölf Regeln für erfolgreichen Widerstand von Harald Welzer – wird gelebt. Der Schlüssel des Projekts ist: »Die Musiker müssen ihr Publikum suchen, damit ihr Publikum sie im Konzert findet.« Rein in die Schulen! Inzwischen gibt es allein in Hamburg 28 musikinteressierte und experimentierfreudige Schulen, mit denen TONALi kooperiert.

Der entscheidende neue methodische Griff ist die TONALi-Publikumsakademie. Sie bildet Schülermanager aus, überträgt Verantwortung an Kinder und Jugendliche, unabhängig von Alter, Herkunft und Bildungsstand. Ihnen werden die Grundkenntnisse des Kulturmanagements in Workshops vermittelt. Inzwischen organisieren über 2.400 Schüler­manager bereits in neun Ländern jährlich rund 120 Konzerte für über 40.000 Kinder und Jugendliche. Sie gestalten unter professioneller Anleitung des TONALi-Teams und des jeweiligen Veranstalters selbstständig ein Schulkonzert an ihrer Schule. Ihr ideeller Gewinn dabei ist enorm, z.B.:

Kennenlernen von Spitzenmusikern, Erlernen von Grundkenntnissen des Kulturmanagements, die berufsvorbereitend und übertragbar sind, Übernehmen von Verantwortung (inner- und außerschulisch), Stärkung des Gemeinschaftsgefühls, Erkennen der eigenen Stärken und Schwächen. Das Motiv »Kultur macht man am besten gemeinsam« bewährt sich glänzend.

Wettbewerbe anders und doch international erfolgreich

Für die jungen Musiker selber gibt es jedes Jahr den Solistenwettbewerb mit ansehnlichen Preisgeldern. Teilnehmer im Alter von 16 bis 21 Jahren können sich bewerben, z.B. für Cello (2018), Klavier (2019) oder Geige (2020). Der Wettbewerb führt über vorbereitende Workshops zur einwöchigen Vorrunde und schließlich zur Endrunde im Abschlusskonzert in der Elbphilharmonie in Hamburg.

Amadeus Templeton und Boris Matchin haben dabei ihre Zielgruppe für 2019 genau vor Augen:

»DU denkst, dass das KONZERT nur erhalten bleibt, wenn es verändert wird.

DU fühlst, dass du SOLIST/IN werden möchtest und junge Hörer für Klassik begeistern kannst.

DU willst als PIANIST/IN an einem Wettbewerb, Festival, Schulprojekt teilnehmen …«

Zwölf Teilnehmer werden zur Vorrunde eingeladen und spielen vor einer kompetenten Fachjury. Jeder dieser zwölf TONALiSTEN ist einer Hamburger Schule zugeordnet. Dort stellen sie in den von den Schülermanagern vorbereiteten und organisierten Konzerten die Stücke vor, die sie spielen, und sprechen über die eigene Beziehung zu diesen Stücken, was daran so begeisternd ist.

In einem Workshop an der Universität Witten-Herdecke werden Einführung und Moderation praktisch geübt. Natürlich können bei einem Wettbewerb nicht alle gewinnen, aber ein Teilnehmer äußerte einmal: »Wir haben nicht verloren, wir haben nur nicht gewonnen!«

Vom Kiez zur Elbphilharmonie …

Einen guten Eindruck in die Arbeit von TONALi geben drei Dokumentar-Kinofilme. Hier kann man miterleben, wie die jungen Schülermanager vor ihren gleichaltrigen oder sogar älteren Mitschülern stehen und ein Konzert moderieren, für deren Gestaltung sie in den Workshops wertvolle Anregungen bekommen haben: »Veranstaltet euer Konzert an einem außergewöhnlichen Ort, z.B. in der Tiefgarage, dem Foyer, dem Treppenhaus, der Mensa oder in der Turnhalle. Lasst euren Patenmusiker in der Mitte des Raumes spielen, baut einen Mix aus Stühlen, Kissen und Matten für das Publikum kreisförmig auf …« In den Filmen sieht man die zum Teil noch sehr jungen Musiker, die sich dem jungen Publikum stellen und die Musik einfühlsam vorstellen. Es ist berührend mitzuerleben, wie sie ihr Publikum schließlich um Präsenz bitten – nicht für sich, sondern für den Komponisten und sein Werk, das sie über Monate vorbereitet und geübt haben … Und es wird still, »jung-still«! Amadeus Templeton versicherte mir in einem ausführlichen Gespräch, dass dies mit klassischer und neuer Musik funktioniere – ja, wenn der Funke überspringt, der Himmel aufgeht und es geschieht, dass junge Musiker und ein junges Publikum eins werden in der Hingabe an die Musik.

Seit Januar 2018 gibt es einen eigenen kleinen TONALi-Saal in einem ehemaligen Pferdestall im Grindel-Uni-Viertel in Hamburg. Nach der Devise »Auch der Saal soll mündig sein« soll er auch denjenigen eine Teilhabe am Kulturleben ermöglichen, die mit Klassik aus familiären, kulturellen oder sozialen Gründen wenig bis gar nicht in Berührung kommen. Das gleiche Ziel verfolgt das Festival-Projekt »Klassik in deinem Kiez«, das jetzt schon ins fünfte Jahr geht. Es werden ungewöhnliche Orte in Hamburg bespielt, vom Stellwerk bis zur Reeperbahn. Für den bekannten Pianisten und Dirigenten Christoph Eschenbach, den Ehrenpräsidenten von TONALi, ist es ein Sozialprojekt.

»TONALi bringt … die künstlerische Elite in soziale Verantwortung, und umgekehrt wird die Gesellschaft zu künstlerischem Tun motiviert. Damit gehen beide Seiten aufeinander zu. Damit ereignet sich, was der Künstler Joseph Beuys mit der ›Sozialen Plastik‹ beschrieben hat …«

… bis nach China

Im Saal von Kungming waren rund 350 Menschen – Schüler, Studenten, Professoren und Lehrer. Bevor es mit dem Konzert losging, wurde gechattet, gegessen und laut telefoniert – ein Gebaren das während des Konzertes gerne beibehalten wird. Da haben sich die jungen TONALi-Musiker an das Publikum gewendet und um Präsenz für die Musik gebeten. Die Musiker stellten dem Publikum die Aufgabe, einen Satz aus dem Klaviertrio von Debussy zwei Mal anzuhören – einmal online und einmal offline. Beim ersten Durchgang des Satzes sollte jeder sein Smartphone nutzen und aus dem Saal heraus das Werk filmen – möglichst gut.

Nach dem das Stück erklungen war, zückten fast alle ihre Geräte und produzierten Live-Mitschnitte, die dann direkt über die sozialen Netzwerke verbreitet werden sollten. Die Musiker verwiesen explizit auf die Möglichkeit, die Freunde direkt über das Erlebnis aus dem Konzertsaal zu informieren.

Dann kam die zweite Aufforderung: »Macht jetzt bitte alle das Smartphone aus, stellt es in den Flugmodus«, steht gerne auf und kommt bitte alle auf die Bühne. Das Publikum stand auf und kam auf die Bühne. Es stellte sich eng und kreisförmig um die Musiker und hörte sich ein zweites Mal den Satz von Debussy an – diesmal offline und in der gegenseitigen Wahrnehmung auf der Bühne.

Durch dieses Online-Offline-Format wurden einerseits die Grenzen zwischen Bühne und Saal aufgehoben, andererseits bekam die Kammermusik ihren Saloncharakter zurück. Das anwesende Publikum machte eine wichtige Erfahrung: Es war noch näher am Geschehen als das virtuelle Publikum.

TONALi ringt um Orte, Ereignisse, Erfahrungen, an denen und in denen sich junge Menschen als Menschen schaffend erleben und begegnen können: spielerisch-musikalisch-begeisternd der Zukunft Gehör verschaffen. Spielplätze statt Marktplätze, Kulturpädagogik 2018!

Zum Autor: Dr. Günther Dellbrügger ist emeritierter Pfarrer der Christengemeinschaft und Autor zahlreicher Bücher und Veröffentlichungen.

Link für den Wettbewerb: http://www.tonali.de/wettbewerbe/spielen/teilnehmen/

Hier kann man auch die TONALi-Kinofilm-Trilogie TONALi 10/ Ciao Cello /Jung und Piano bestellen.