Am Anfang steht der Weg

Albert Schmelzer

Der Initiationsprozess beginnt schon mit dem Bemühen um das Verständnis des Menschen. Dabei wird – neben dem Studium anderer Konzepte – aus anthroposophischer Sicht zwischen leiblichen, seelischen und geistigen Aspekten differenziert. Was ist mit dem geistigen Charakter des Menschen gemeint? Beim Studium von Rudolf Steiners Theosophie scheint eine erste Antwort rasch gefunden: Der menschliche Geist drückt sich in der Fähigkeit des Denkens aus; er kann die Dinge nicht nur nach Gesichtspunkten der Sympathie und Antipathie oder der Nützlichkeit betrachten, sondern erkennt in und zwischen ihnen Gesetzmäßigkeiten. Entsprechend erscheint das Gehirn als Zentralorgan des Menschen: »Der ganze Leib des Menschen ist so gebildet, dass er in dem Geistorgan, im Gehirn, seine Krönung findet.« Dagegen wird im vierten Vortrag des ersten Lehrerkurses, der Allgemeinen Menschenkunde, der Geist im Willen verortet, als Wunsch, »in einem nächsten Fall dieselbe Handlung besser zu machen«. Und im dreizehnten Vortrag des gleichen Kurses wirkt der Geist in der Tätigkeit der Gliedmaßen: »Indem wir die Hand ausstrecken zu sinnvoller Arbeit, verbinden wir uns mit dem Geiste […].« – Eklatante Widersprüche?

Allmählich mag die Einsicht dämmern, dass die komplexe Wirklichkeit des Menschen nicht in starren Definitionen erfasst werden kann, sondern eher durch multiperspektivische Annäherungen beleuchtet werden sollte … Besonders deutlich zeigt sich das beim Versuch einer Kinderbetrachtung, der sich an die Praktika oder die studienbegleitende Kinderbetreuung anschließt. Wie lerne ich, Aussehen, Gestik und Gang eines Kindes so wahrzunehmen und zu beschreiben, dass Charakteristisches aufleuchtet? Wie eigne ich mir die Fähigkeit an, mit menschenkundlichen Konzepten – wie zum Beispiel dem der Temperamente – so umzugehen, dass sie nicht dazu dienen, Kinder in Schubladen einzuordnen, sondern zu ihrem Verständnis beitragen? Wie finde ich schließlich pädagogische Lösungen für Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, wie gelingt es, die mir anvertrauten Kinder zu fördern?

Den Phänomenen auf der Spur …

Auch auf dem Felde des »Methodisch-Didaktischen« sind die Studenten gefordert, sich auf Neues einzulassen. Nicht ein lineares Vorgehen vom Problemaufriss bis zur Lösung innerhalb einer Unterrichtsstunde wird angestrebt, sondern ein Erkenntnisprozess, der sich in drei Phasen entfaltet und sich über zwei Tage erstreckt: In einem ersten Schritt geht es darum, durch eine lebendige Darstellung oder ein Experiment zu einer Weltbegegnung hinzuführen, dann folgt im gemeinsamen Gespräch das Bemühen, das angesprochene Phänomen – einen Stein, eine Pflanze, ein Tier, eine Persönlichkeit oder einen Vorgang – zu charakterisieren. Erst nach den unbewussten Verarbeitungsprozessen des Schlafes, am nächsten Tag, wird nun versucht, zum Wesen einer Sache, etwa zum Motiv des Handelns oder zum Naturgesetz, vorzudringen.

Schon der erste Schritt ist anspruchsvoll. Wie eigne ich mir die Kunst an, anschaulich und bildhaft zu erzählen? Schaffe ich es, Perikles durch das antike Athen spazieren zu lassen, habe ich ein plastisches Bild der Persönlich­keiten, die er dort angetroffen hat? Gelingt es mir, lebendig zu schildern, wie eine Löwin inmitten des Rudels über Stunden hinweg träge im Schatten eines Eukalyptus­baumes döst, wie sie allmählich aufwacht, einige Antilopen wittert und sich dann – gemeinsam mit anderen Löwinnen – auf die Jagd begibt? Wie sie anpirscht, anschleicht, dann mit kraftvollen Sprüngen losbricht und sich auf das Opfer stürzt? Oder – schwerer noch: Bin ich fähig, in einer der unteren Klassen eine Eiche mit einer Birke so sprechen zu lassen, dass die Erzählung sachgemäß und von einer exakten Phantasie getragen ist? Auch die weiteren Phasen des methodischen Dreischritts sind nicht einfach zu realisieren; stets von neuem wird zu fragen sein, wie man die Schüler anregen kann, eine Welterscheinung so vielseitig wie möglich zu charakterisieren und welche Frage geeignet ist, den Schritt der Begriffsbildung einzuleiten.

Künstlerisches Üben

Doch nicht nur auf intellektuellem Felde stellt das Studium zum Waldorflehrer eine Herausforderung dar. Besonders eindrücklich waren meiner eigenen Erinnerung nach die Erfahrungen in den Künsten – heutige Studenten bestätigen das. Da ist beispielsweise in der Sprachgestaltung Goethes Gedicht »Prometheus« zu rezitieren. Ein Titan rebelliert gegen die höchste Gottheit: »Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst / Und übe, dem Knaben gleich, / der Disteln köpft, / an Eichen dich und Bergeshöhn! / Musst mir meine Erde / Doch lassen stehn […]« Gelingt es, die innere Haltung, aus der solche Sätze herausgeschleudert werden, in mir lebendig zu machen? Wie soll ich sie sprechen – ohne zu schreien, aber auch, ohne allzu harmlos zu wirken? In der Eurythmie wird der ganze Leib zum Instrument, um Sprache oder Musik auszudrücken. Wie komme ich in die geforderte Beweglichkeit hinein? Schaffe ich es, Rhythmen exakt und einfühlsam zu laufen? Kann ich bei Gruppenformen ein Gefühl für die Nachbarn und die ganze Gemeinschaft entwickeln? Herausfordernd auch das Malen. Nach einigem Üben steht etwa die Aufgabe an, mit den Aquarellfarben Gelb, Rot und Blau eine Abendstimmung in Schichttechnik auf das Blatt zu zaubern. Was für eine Gedulds- und Wahrnehmungsübung! Nach jedem Farbauftrag ist neu hinzuschauen: Was geschieht, wenn ich Rot über das grundierte Blau lege? Oder Gelb? Was, wenn ich einige Stellen verdichte und andere offener lasse? Im plastischen Gestalten steht nach redlichem Bemühen endlich die verlangte organische Form vor mir. Wir schauen sie im Kreis der Mitstudenten mit dem Dozenten an. Der nimmt nach einer Weile das Gebilde und stellt es auf den Kopf. Allgemeines Erstaunen: Jetzt wirkt die Form lebendiger. Hatte ich mich in allzu feste Vorstellungen verfangen? Schließlich die Musik. Wie schön, dass auch eine ungeübte Stimme nach einiger Zeit im Chor gut klingen kann und dass es wirklich möglich ist, einfache Lieder dirigieren zu lernen! Die Eindrücke ließen sich vervielfachen. Das künstlerische Üben bringt uns dazu, die Grenzen unserer gewordenen Persönlichkeit zu überwinden, das Konventionelle hinter uns zu lassen, das Wahrnehmen zu verfeinern und die Ausdrucksfähigkeit zu steigern – und sie bereitet uns vor, unsere Fassung in ungesicherten Situationen nicht zu verlieren und vertrauensvoll in den lebendigen Strom des pädagogischen Prozesses einzusteigen.

Spirituelle Offenheit, Selbstentwicklung und Erziehungskunst

Trotz aller Vorbereitung – und sei sie noch so gut – wird sich ein gewisser Praxisschock nicht vermeiden lassen. Plötzlich die Verantwortung für eine ganze Schar von Kindern oder Jugendlichen. Dazu die hohen und unterschiedlichsten Erwartungen der Eltern, das Einleben in ein neues Kollegium. Die fachlichen Herausforderungen durch immer neue Unterrichtsepochen. Und dann die Erfahrung: Das alles wird sich bewältigen lassen, wenn ein innerer Halt, eine Quelle gefunden wird, aus der neue Kräfte zufließen. Diese Quelle wird individuell verschieden sein, sie mag in Naturerlebnissen, künstlerischem Üben, religiöser oder meditativer Praxis bestehen. Hier klingt ein weiterer Aspekt des initiatorischen Prinzips an: Initiationen, Einweihungen, die es ja historisch in vielfältiger Weise gegeben hat, haben Menschen immer vorbereitet, sich für geistige Einwirkungen und Kräfte zu öffnen. Die Waldorfpädagogik ist von Rudolf Steiner durch zahlreiche Übungshinweise und durch die Anregung, die Motive der Menschenkunde zu meditieren, in diesen spirituellen Strom hineingestellt worden, und der gesamte Entwicklungsweg des Lehrers kann als initiatorischer Prozess verstanden werden.

Dieser Prozess ist prinzipiell unabgeschlossen. Ein langjähriger Lehrer wird Schiffbruch erleiden, wenn er sich auf seine vergangenen Erfahrungen, seine bisher erworbenen Fähigkeiten verlässt. Denn die Kinder oder Jugendlichen, die er zu unterrichten hat, sind immer wieder neu und anders – und sie entwickeln sich stetig. Daher hängt die pädagogische Wirksamkeit in hohem Maße von der Selbstentwicklung des Lehrers ab.

Ein Jahr nach der Gründung der ersten Waldorfschule, am 15. September 1920, hat Rudolf Steiner in dem Kurs »Meditativ erarbeitete Menschenkunde« diesen Aspekt besonders betont. Das Unterrichten, so heißt es da, sei für den Pädagogen ein ständiger Lernprozess: »Du probierst im edelsten Sinne des Wortes, du kannst eigentlich nicht sonderlich viel; aber es erwächst dir eine gewisse Kraft, indem du mit den Kindern zusammenarbeitest.« Dann folgt ein entscheidender Satz: »Im Leben hat nicht das fertige Wissen einen Wert, sondern die Arbeit, die zu dem fertigen Wissen hinführt, und insbesondere bei der pädagogischen Kunst hat diese Arbeit ihren ganz besonderen Wert. Es ist eigentlich so wie in den Künsten. Ich glaube nicht, dass einer ein ganz richtig gesinnter Künstler ist, der nach Abschluss eines Werkes sich nicht sagte: jetzt könntest du es eigentlich erst.« Mit solchen Sätzen ist nicht einem fachlichen oder pädagogischen Dilettantismus das Wort geredet. Selbstverständlich benötigt der Lehrer inhaltliches Wissen und methodisch-didaktische Kompetenzen. Kontraproduktiv aber werden Wissen und pädagogische »Kniffe«, wenn sie »fertig« sind, zum Rezept verkommen und das trügerische Gefühl vermitteln, das Unterrichtsgeschäft »im Griff« zu haben. Ein Kunstwerk kann nur aus gegenwärtigem Erleben und Handeln geschaffen werden – auch und gerade in der pädagogischen Kunst.

Zum Autor: Prof. Dr. Albert Schmelzer ist Historiker, Waldorflehrer und lehrt in der Lehrerbildung an der Alanus Hochschule in Mannheim.

Literatur:

A. Schmelzer: Der Entwicklungsweg des Lehrers.  Auf dem Wege zu einer »Pädagogik der Achtsamkeit«. In: J. Schieren: Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven. Weinheim Basel 2016, S. 657-674 | R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde, GA 293 | Ders.: Meditativ erarbeitete Menschenkunde, GA 302a | Ders.: Theosophie, GA 9