Am Haken der Social Media-Apps

Robert Neumann

Im Schnitt tun wir das bis zu achtundachtzigmal am Tag, wobei die Zahl bei Jugendlichen sehr viel höher liegt, als bei Erwachsenen.1

Der Frage, warum das so ist, geht der im Frühjahr dieses Jahres erschienene Dokumentarfilm Screened out des amerikanischen Filmemachers Jon Hyatt nach. Ein Ausgangspunkt für den Filmemacher war seine eigene exzessive Nutzung des Smartphones. Im Film wird auch die Arbeit von Nir Eyal porträtiert. Dieser zeigte 2014 in seinem Buch Hooked, wie Sie Produkte erschaffen, die süchtig machen, wie viel Arbeit von Seiten der App-Firmen investiert wird, um die Nutzer durch die Anwendung von psychologischen Mechanismen möglichst oft an den Bildschirm zu holen. Das sogenannte Hook-Modell besteht aus vier Stufen:

  1. Der Auslöser, der dafür sorgt, dass man überhaupt die App oder ein Spiel aufruft. Anfangs sind es meist externe Auslöser, z.B. Freunde, die zu einem Spiel einladen oder eine E-Mail mit einem Link. Daraufhin folgen innere Auslöser: Langeweile, Bedürfnis nach Unterhaltung.
  2. Die Handlung, d.h. der Klick auf die E-Mail mit dem Link oder das Tippen zum Öffnen der App, danach das Spielen des Spiels oder das Scrollen durch Bildergalerien, Nachrichten usw.
  3. Die variable Belohnung: Man trifft z. B. Bekannte auf der Social Media-App oder beim Online-Spielen oder wird durch schnellen Fortschritt am Anfang des Spiels belohnt. Wichtig ist hierbei, dass die Belohnung variabel ist, also nicht vorhersehbar, ähnlich wie bei einem Spielautomaten.
  4. Die Investition: Man pflegt sein Profil oder lädt Freunde ein. Durch die Investition steigt die Aussicht auf eine »Verbesserung« des Erlebnisses beim nächsten Mal.

Das Hook-Modell nach Nir Eyal

Das von Nir Eyal beschriebene Modell weist interessante Parallelen zur Waldorfpädagogik auf: Der externe Auslöser als erster Schritt zielt auf die Reizung der Sinnenorganisation, d.h. des physischen Leibes. Die Handlung in ihrer wiederholten Tätigkeit lässt sich dem Ätherleib zuordnen, der eng mit der Gewohnheitsbildung verknüpft ist. Die Belohnung hingegen bedient die »Begierdennatur« des Astralleibes. Selbstbild und Ehrgeiz werden im letzten Schritt angesprochen.

Das bedeutet, dass man mit jedem Durchlaufen des Hook-Zyklus auf allen Ebenen angesprochen wird. Vielleicht kann dies ein weiterer Schlüssel zum Verständnis sein, warum es so schwierig ist, die Geräte aus der Hand zu legen.

Medizinisch betrachtet, ist der entscheidende Punkt der Dopamin-Kick, den man jedes Mal erhält, wenn die App genutzt wird. Da dies auf der körperlichen Ebene stattfindet, kann man sich dem auch als reflektierender Mensch nur schwer entziehen, für Jugendliche ist dies fast unmöglich. Es stellt sich die Frage, wie ein junger Mensch einen maßvollen Umgang mit dem Smartphone überhaupt erlernen kann, wenn auf der anderen Seite Psychologen und Programmierer im Hintergrund mit allen Mitteln genau am Gegenteil arbeiten.

Nicht von ungefähr kommt das Zitat des Computer- und Politikwissenschaftlers Edward Tufte: »Es gibt nur zwei Branchen, die ihre Kunden als ›user‹ bezeichnen: Die Drogenbranche und die Softwarebranche.« (»There are only two industries that call their customers ›users‹: illegal drugs and software.«)2

Die »Smartphone Challenge«

Die Folgerung aus dieser Erkenntnis kann eigentlich nur sein, das Smartphone Jugendlichen so spät wie möglich zu geben. Dazu kommt, dass die Probleme nicht aufhören, wenn es erst einmal da ist, denn dann wird über Nutzungsdauer, Spiele und die Frage, ob das Gerät wirklich nachts in der Küche bleiben muss, diskutiert. Falls das Kind ein Mobiltelefon z.B. für den Schulweg braucht, ist es vielleicht die bessere Variante, eines zu kaufen, das nicht internetfähig ist. Solche Geräte gibt es bereits ab 20 Euro und man kann mit ihnen telefonieren und SMS schicken.

Ansonsten gibt es einen weiteren interessanten Ansatz, den wir als Eltern oder Lehrkraft auch mit unseren Schülern zusammen ausprobieren können, wenn diese flächendeckend Smartphones besitzen: die »Smartphone Challenge«. Es geht darum, über einen gewissen Zeitraum, z.B. einen Monat, die eigene Smartphone-Nutzung zu beobachten, das Smartphone aufzuräumen und auch einmal eine Weile liegen zu lassen. Im gerade erschienenen Buch Digitale Balance liefert der Autor Christoph Koch eine nutzbare Vorlage dazu. Als Erwachsene sollten wir uns bewusst sein, dass wir für die Kinder immer Vorbilder sind, ob wir wollen oder nicht. Wenn es zum Groß-Sein dazugehört, ein Smartphone zu haben und dieses ständig zu nutzen, wollen die Kinder natürlich auch eins, so wie kleine Kinder heute schon fragen, wann sie denn eine Maske bekommen, weil ja in Corona-Zeiten alle Erwachsenen Masken tragen. Wenn wir dann als Erwachsene freiwillig das Gerät mal weniger nutzen, steigt auch die Bereitschaft der Jugendlichen dafür.

Eine Bemerkung noch zum Film: Es lohnt sich, Screened out anzusehen, auch weil der Film ganz selbstverständlich die Waldorfschule in Silicon Valley zeigt, die es geradezu zu ihrem Markenzeichen gemacht hat, auf Technologie weitgehend zu verzichten und genau deswegen hohen Zulauf hat.

Insgesamt geht es nicht darum, Smartphones und Apps als Wurzel allen Übels zu sehen. Es macht das Leben in vielen Dingen leichter und es gibt sinnvolle Anwendungen, auch in der Schule: Man kann einen Erklärfilm produzieren, etwas fotografisch dokumentieren oder im Physikunterricht eine Messung durchführen.

Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, wie wir es schaffen, Kontrolle über unsere Handlungen zu bewahren und bewusst zu entscheiden, wann wir eine App nutzen und wie lange. Dazu ist es hilfreich, die Mechanismen zu durchschauen, nach denen sie funktionieren.

Anmerkungen:

1 https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/digitaler-burnout-zu-viel-smartphone-macht-ungluecklich-a-1056361.html 

2 https://sundial.csun.edu/161195/arts-entertainment/review-netflixs-the-social-dilemma-is-a-great-conversation-starter-but-not-enough-to-create-change/

Links: https://www.screenedoutfilm.com | www.penguinrandomhouse.de/Paperback/Digitale-Balance | www.erziehungskunst.de/nachrichten/inland/projekt/medienfasten/

Zum Autor: Dr. Robert Neumann war Oberstufenlehrer an den Freien Waldorfschulen Freiburg und Kassel und ist heute Dozent für Medienpädagogik, Mathematik und Physik an der Freien Hochschule Stuttgart.