Historisch

Anatolij Pinskij. Ein russischer Waldorfpädagoge und -politiker

Nana Göbel
Anatolij Pinskij zählt zu den wichtigsten Wegbereitern der Waldorfpädagogik in Russland.

Pinskij suchte im damaligen sozialistischen akademischen Korsett nach anderen Ideenwelten und kam dabei sowohl mit westlichen Philosophen als auch mit der orthodoxen Kirche sowie mit der Theosophie in Berührung. Prägend für ihn war insbesondere der Diskussionsklub des bekannten Dissidenten G. P. Schedrowizkij und die dort geführten Debatten über westliche Philosophen. Pinskij war aufgrund seiner führenden Stellung in diesem Zirkel bestens vernetzt. Studenten des Pädagogischen Instituts, zeitweise auch Pinskij selbst, gaben die Zeitschrift Lyriker heraus und studierten immer wieder Aufführungen ein. Pinskij dramatisierte zum Beispiel den Idiot von F.M. Dostojewski – eine Aufführung, die von der Administration des Instituts, das heißt von der Partei, verboten wurde.

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre lernte Pinskij die Anthroposophie und die Waldorfpädagogik kennen und merkte, dass er sich in der Gruppe von Anthroposophen unter verwandten Seelen bewegte. Er nahm an einem von Idriart in Tiflis veranstalteten Musikfestival teil, an dem sich zum ersten Mal Anthroposophen aus der ganzen Sowjet-Union begegneten. 1988 sprach der schwedische Waldorfpädagoge Walter Liebendörfer im Studienzirkel in seiner Wohnung, die wegen des Besucherandrangs aus allen Nähten platzte. Der Enthusiasmus war groß und führte dazu, dass Pinskij gemeinsam mit Vladimir Sagvosdkin und Slawa Rosentuller den Klub Aristotel in den Räumen eines Quartier-Kinderzentrums gründete und 1989 einen Waldorfkindergarten eröffnete. Bald zeigte sich Ausbildungs­bedarf, weshalb schon 1990 ein Proseminar und dann ein Lehrerseminar begann, das an der Öffentlichen Russischen Universität registriert und dessen Eröffnung 1990 gefeiert wurde. Als nächstes eröffnete Pinskij gemeinsam mit mehreren Freunden das von ihm geleitete Zentrum für Waldorfpädagogik in Moskau.

Die pragmatische und kompromissbereite Haltung Pinskijs geriet so manches Mal in Gegensatz zu der mehr idealistischen Haltung vieler anderer Waldorflehrer aus dem In- und Ausland. Man könnte aber auch sagen, dass sich der direktoriale Führungsstil Pinskijs und der aus der Lehrergemeinschaft errungene Führungsstil der anderen Kollegien unvereinbar gegenüberstanden. Ihm wurde wegen seiner guten Beziehungen zur russischen Bildungsbürokratie immer wieder Systemnähe vorgeworfen.

Dank einer erheblichen finanziellen Unterstützung der Renovierungskosten aus Deutschland konnte er bereits 1991 ein großes vierstöckiges Gebäude an der Stremyannij Pereulok für das Zentrum für Waldorfpädagogik sanieren. Doch die hohen und für eine freie Schule nicht mehr zu finanzierenden Betriebskosten sowie die von der Stadt verdoppelte Miete führten ihn schließlich 1994/95 zu der Überzeugung, dass eine Weiterarbeit nur als staatliche Schule möglich sei, obwohl freie Schulen zwischen 1992 und 1995 zu 80 Prozent vom Staat subventioniert wurden. 1995 gelang ihm die Eingliederung der Waldorfschule in das staatliche Schulsystem. Die Schule wurde zur Schule Nr. 1060. Und die Heizung funktionierte wieder, weil der Staat die Kosten übernahm. Die Schule verzeichnete nun ein großes Schülerwachstum. Pinskij residierte im Erdgeschoß, in einem verrauchten Zimmer mit halbvollen Teetassen, und organisierte das Leben der Schule so, dass die Lehrerinnen und Lehrer über recht weitreichende inhaltliche Freiheiten und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten verfügten. Er kannte die Schule bis in den letzten Winkel – innerlich wie äußerlich.

Unter Boris Jelzin trat er in die Jabloko-Partei ein, deren Abgeordnete in verschiedensten Bildungskommissionen tätig waren. Schließlich wurde er Berater des Bildungsministers und begann, eine wichtige Rolle in der Entwicklung der russischen Bildungspolitik zu spielen. Angesichts der Ungerechtigkeiten und Hürden in der Jelzin-Ära setzte er sich insbesondere für Bildungsrecht und Bildungsfinanzierung ein. Da Lehrer im damaligen Russland nach der gegebenen Stundenzahl bezahlt wurden und sie sowieso schon zu den Geringverdienern gehörten, versuchten die meisten so viele Unterrichtsstunden als möglich zu geben. Pinskij sah, dass nur eine Entkoppelung von Stundenzahl und Gehalt eine inhaltliche Veränderung des Schulsystems ermöglichen würde und entwickelte ein neues Gehaltssystem. Noch bekannter wurde er durch die von ihm angestoßene Ober­stufenreform, deren Grundlagen er an der eigenen Waldorfschule Nr. 1060 entwickelt hatte. Wesentlicher Inhalt der Reform war, dass Schüler sich für ein entweder naturwissenschaftlich oder humanistisch ausgerichtetes Profil entscheiden konnten.

In den letzten Lebensjahren betätigte sich Pinskij wieder künstlerisch und wissenschaftlich. Er spielte Volksmusik, besonders seine geliebte jiddische Musik, konzertierte in Restaurants und führte mit den Schülern Anatevka auf. Gleichzeitig gab er zusammen mit Vladimir Sagvosdkin die pädagogischen Vorträge Rudolf Steiners in der bekannten Serie Humanistische Pädagogen mit wissenschaftlichen Kommentaren heraus. – Er starb viel zu früh.