Die Jugend zeichnet sich durch eine hohe seelische Regsamkeit aus, die in leiblicher Präsenz an die Welt »andockt« und sich in methodisch geordnetem Vorgehen geistig objektiviert. Lehrkräfte an Waldorfschulen werden dahingehend ausgebildet, diese Ausdifferenzierung des menschlichen Lebens nach Leib, Seele und Geist in den Blick zu nehmen, wenn sie ihren Unterricht auf das menschliche Leben selbst beziehen wollen. Jugendlich-Sein heißt dann in gesteigertem Maße, sich seelisch neu und eigenständig zu erleben. Die individuelle Einbildungskraft bindet die neu gewonnene Autonomie an das konkrete Erleben und an die Klarheit eigener Einsichten an. Es geht um seelische Dynamiken zwischen Leib und Geist.
Ein Gang über die Blumenwiese mit weitreichenden Folgen
Die Frage, wie es ist und was es heißt, ein Mensch zu sein, unter leiblichen, seelischen und geistigen Aspekten zu erwägen, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Waldorfpädagogik. Als anthropologische Fragestellung steht sie in einer langen Tradition. Rudolf Steiner hat in seinen zahlreichen Entwürfen der Waldorfpädagogik auf diese Gliederung Bezug genommen. In den Institutionen der Lehrerbildung für Waldorf-schulen wird Steiners Zugang zu Leib, Seele und Geist häufig anhand seines Werkes Theosophie thematisiert (Steiner 2013, S. 24 ff.). Im Rückgriff auf Goethe zeichnet Steiner dort nach, wie wir Gegenstände um uns herum, beispielsweise die Blumen einer Wiese, durch unsere Sinne wahrnehmen. Wir öffnen uns in leiblicher Präsenz der Welt und machen unsere Eindrücke zu unserer eigenen Angelegenheit. Den letztgenannten Vorgang ordnet Steiner der Seele zu. Das schließt sowohl sympathische wie antipathische Reaktionen als auch eine Ordnung der eigenen Erfahrungen ein. Gelingt es, die Beurteilung der Erfahrungen nicht allein aus sich selbst, sondern aus dem Kreis der Dinge zu nehmen, die man beobachtet, dann überschreitet man nach Steiner die Berührungsfläche von Seele und Geist. Demgegenüber liegt die Berührungsfläche von Leib und Seele dort, wo sich an die Orientierung des Auges zum Himmel die eigene Empfindung seiner Farbe anschließt.
Nach Steiner kommt der Seele also eine vermittelnde Rolle zwischen Leib und Geist zu. In seinen drei Schulungskursen für Lehrkräfte anlässlich der Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919 greift Steiner (2019, S. 426 ff.) den Übergang der Seele zu Leib und Geist auf. Anhand der Reihe Es grünt – die Wiese grünt – die grüne Wiese thematisiert er unterschiedliche Formen seelischer Präsenz. Während Es grünt die ungebrochene Frische der Erfahrung in den Blick nimmt, in der der Mensch sich die Erfahrung des Grüns zu eigen macht, ist das Bewusstsein bereits gegenständlich, wenn er die Wiese grünt formuliert. Hier charakterisiert er einen leiblich-seelischen Übergang. Im Fortgang zur Formulierung die grüne Wiese wird eine stärker objektivierende Haltung eingenommen, hier zeichnet er einen seelisch-geistigen Übergang nach.
Folgen für den Oberstufenunterricht – eine Anthropologie der Begegnung
Im Oberstufenunterricht der Waldorfschulen, und insbesondere im Epochenunterricht, steht die unmittelbare Begegnung mit einem Besonderen im Vordergrund, das auf ein Allgemeines weist. Die Ausdrucksstärke eines Kunstwerkes darf zunächst vielseitig erlebt werden, bevor es kunsthistorisch eingeordnet oder formal befragt wird. Eine Reihe mathematischer Aufgaben, die von Bekanntem ausgehen und auf Neues führen, wird bearbeitet, bevor das Neue systematisch gefasst wird. Eine Reihe von Experimenten eröffnet, wenn man die Experimente zusammenschaut und vergleicht, ein physikalisches Gesetz. Die Form eines Organs wird zum Ausdruck seiner Funktion. Die Szene eines Theaterstückes weist einerseits auf eine Lebensfrage und andererseits wird sie als retardierendes Moment im Gang der Handlung erkannt.
Die Schüler lernen dabei, sich gemeinsam mit anderen auf Neues einzulassen. Die Begegnung mit Neuem liegt in der Hand der Lehrkräfte, ihre Aufgabe ist es, immer bessere Profis für sprechende Weltbegegnungen zu werden. Sie ermöglichen es dem Unterrichtsstoff, auf die Bühne der Welt zu treten, dadurch wird der Unterricht weit mehr als Informationsübermittlung: Schüler und Lehrer sind gemeinsam präsent, während sich ein Stück Welt enthüllt. Es ist das geteilte Interesse, durch das die Welt spricht.
Durch die Erfahrungen während der Corona-Pandemie zeigt sich derzeit landauf landab, wie geteiltes Interesse, in erziehungswissenschaftlicher Sprache: geteilte Aufmerksamkeit, für Lernvorgänge konstitutiv ist. Mit anderen zusammen sich für etwas interessieren, das hier und jetzt in Erscheinung tritt, bedeutet, dass man auch die Perspektiven der anderen mit wahrnimmt oder spürt. Man fühlt sich in eine Vielheit von Weltbegegnungen eingebettet und merkt, dass die Welt für mich auch eine Welt für andere ist. Das vermittelt Gemeinschaftsgefühl, Lebenssicherheit und ist eine Erziehung gegen Fake-News und Einseitigkeit, ohne autoritär zu sein.
Wenn Lehrkräfte an Waldorfschulen mit dem Anspruch antreten, Profis für sprechende Weltbegegnungen zu werden, dann benötigen sie einen Referenzrahmen, mit dem sie ihren Unterricht reflektieren können. Dieser Referenzrahmen muss die Brücke zu den Schülern aufspannen und der Art, wie sie im Unterricht präsent sind und leben. Er darf sie aber nicht in normativer Weise festlegen und ihnen den eigenen Lernweg nehmen. Er muss Ambiguitäten zulassen.
In der Waldorfpädagogik tritt hier die Berührungsfläche von Leib und Seele oder Es grünt – die Wiese grünt in den Vordergrund, liegt doch der Fokus auf der Intentionalität der Schüler, während sie sich in gesteigerter Aufmerksamkeit, d.h. auch mit hoher leiblicher Präsenz, der Welt öffnen. Steiner (1986, S. 29 ff.) hat in seinen anthropologischen Entwürfen zum Oberstufenunterricht skizziert, dass dafür die logischen Funktionen nicht als rein abstrakte Verknüpfungen aufgefasst werden dürfen, sondern zugleich als in leibliche Vorgänge eingebettete. Steiner skizzierte 1921 ein Konzept des Embodiment, der verkörperten Erkenntnis avant la lettre. Im Zentrum steht, wie die Lernenden im Dahinfließen ihrer Gedanken ihre Aufmerksamkeit ausrichten können und sich der Fortschritt ihres Denkens an die Erscheinungen anschließt, die hier und jetzt im Unterricht anwesend sind. Für die Lernenden ist das ein Weg von jenem Vorwissen oder jener Meinung zu genau dieser Erscheinung. Sie lernen – auch emotional – sich die Welt so anzueignen, wie sie ist. Das darf im Einzelfall auch widerständig oder andersartig sein, sofern es mit Takt und Verantwortung von didaktisch und methodisch professionellen Lehrkräften geführt wird.
Neue Perspektiven
Lehrkräfte an Waldorfschulen, die ihren Oberstufenunterricht reflektieren, können derzeit von zahlreichen Forschungen zum Embodiment profitieren. Sie haben so die Chance, die leiblichen Grundlagen logischen Urteilens immer präziser zu fassen.
Schon als Baby, wenn wir in der Wiege liegen und mit unserem Fuß gegen den Wiegenrand drücken, spüren wir am eigenen Leib, gewissermaßen in uns, die feste Beschaffenheit des Wiegenrandes. Auch die weichere Beschaffenheit der Decke erfahren wir am eigenen Leib. Wir spüren in uns den Unterschied von weichen und harten Körpern. Weich-Sein und Hart-Sein ist etwas Allgemeines. Wir verbinden die Besonderheit unserer Erfahrungen mit einem Allgemeinen. Das ist kein kognitives Selbstgespräch, wohl aber die verkörperte Erfahrung eines Urteils. Von Geburt an urteilen wir als verkörperte Wesen. Es ist zunächst eine äußere Bewegung, in der wir leibhaftig etwas Allgemeines erfahren. Wenn wir anfangen zu zeigen, wird die äußere Bewegung zugleich eine symbolische Bewegung. Wenn wir in einer inneren Bewegung unsere konkrete Erfahrung zu einer allgemeinen Bedeutung werden lassen, dann hat die Bewegung die gleiche Signatur. Leibliche Erfahrungen, die wir seit frühester Kindheit durchlebt haben, klingen mit, während wir jetzt abstrakt urteilen. Unser Urteilen findet im Resonanzraum des Leibes statt.
Wenn im Oberstufenunterricht der Waldorfschulen der Unterricht so inszeniert wird, dass ein Besonderes auf ein Allgemeines verweisen kann, dann urteilt der einzelne Schüler als verkörpertes Selbst im Resonanzraum seines Leibes. Steiners Skizze zum Embodiment, mit der er die Berührungsfläche von Leib und Seele erläuterte, kann heute durch viele Forschungen präzisiert werden.
Lehrkräfte an Waldorfschulen können somit in der Praxis des Oberstufenunterrichts ausloten, wie Urteilen dialogisch werden kann, wenn es im Resonanzraum des Leibes stattfindet. Meine These ist, dass sich aus diesen Resonanzfiguren Erkenntnisfiguren entwickeln können, in denen die Schüler weltverbunden bleiben (Sommer 2021). Für die Berührungsfläche von Seele und Geist wird so im Oberstufenunterricht eine spezifische Signatur aufgesucht: Es gilt, sich nicht nur der Welt anzubequemen und Andersartigkeit zuzulassen, sondern die eigene Weltbeziehung auszugestalten, während man das eigene Denken weltverbunden führt.
Literatur: W. Sommer: Resonanzfiguren als Erkenntnisfiguren. Ein Essay zu 100 Jahren Oberstufenunterricht an Waldorfschulen. Stuttgart 2021 | R. Steiner: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung. Dornach 1986 | R. Steiner: Theosophie, Dornach 2013 | R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde, Methodisch-Didaktisches, Seminar, Dornach 2019
Zum Autor: Dr. Wilfried Sommer ist an der Schnittstelle von Schule und Hochschule tätig: als Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt phänomenologische Unterrichtsmethoden an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter, und in der Lehrerbildung am Lehrerseminar sowie als Physiklehrer an der Freien Waldorfschule in Kassel. Außerdem ist er Vorstandsmitglied im Trägerverein der Kasseler Jugendsymposien.