»Angst essen Seele auf« und ernährt das Ich

Wolf-Ulrich Klünker

Angst an der Grenze

Angst ist das irdische Entwicklungsmittel des Ich: »In der Welt habt ihr Angst, … ich aber habe die Welt überwunden« (Johannes 16, 33). Das Ich kann also durch die Angst hindurchgehen. So ist auch die sprichwörtliche Aussage zu verstehen: Mutig ist nicht, wer nie Angst hat, sondern wer die Angst überwindet. Die Psychoanalyse weist im Anschluss an Freud auf die Bedeutung des Witzes für die Ich-Grenzen hin: Der Witz stellt in seiner Logik die Ich-Grenzen zunächst infrage und löst dadurch eine leichte, nur untergründig bemerkte Angst aus; wenn man am Schluss die Pointe versteht, werden die Ich-Grenzen innerhalb der logischen »Normalität« wiederhergestellt und bestätigt. Diese Auf­lösung der kleinen Angst führt zu einer Erleichterung, die sich im Lachen äußert.

Genauer betrachtet kann Angst als Ausdruck der Ich-Berührung an der eigenen geistigen Schwelle gelten. Eine bestimmte Form der Angst ist ein Symptom dafür, dass an den Grenzen der gewohnten Ich-Erfahrung eigene geistige Wirklichkeit anklopft. Die Zunahme von Angst-Erkrankungen könnte individuell und zivilisatorisch auf die Notwendigkeit forcierter Ich-Entwicklung in der Berührung mit eigener geistiger Identität hinweisen. Entgegen kultureller und psychotherapeutischer Folklore-Vorstellungen muss man davon ausgehen, dass Individualisierung als Ich-Entwicklung im 21. Jahrhundert die spirituelle Begegnung mit der eigenen Ich-Grenze voraussetzt und sich somit nicht angstfrei vollziehen kann. Die Angst als Ich-Erleben an der Schwelle kann als Mittel begriffen werden, die Ich-Existenz an der Grenze zwischen physischer und geistiger Welt in eine gesunde und entwicklungsfördernde Eigenregulation zu bringen. Damit arbeitet das Ich an den eigenen Entwicklungs- und Konstitutionsbedingungen. Ein Leben ohne Angst würde auf die Selbstregulation des Ichs an der Schwelle verzichten.

Ruf der Zukunft

Angst entsteht nicht nur in Situationen, sondern auch vor zukünftigen Situationen. Eine Lösung im Sinne von »Angstfreiheit« bleibt dabei oft ein illusionäres Ziel, auch therapeutisch. Damit die Angst verstanden und überwunden werden kann, bedarf es eines Blicks auf größere Zusammenhänge. Dazu gehört auch (bis in therapeutische Verfahren hinein), die Frage zu relativieren, worin in der Vergangenheit die Ursache für die Angst liegt. Aus dem Woher muss oft ein Wohin werden: Wohin weist die Angst, worauf läuft sie hinaus? Was ist aus ihr geworden, oder was kann aus ihr werden? Jede Wirklichkeit besteht aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und oft liegt die Ursache nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft – in dem, was daraus werden soll. In dieser Hinsicht wäre das psychologische Denken zu erweitern, auch in der eigenen existenziellen Betroffenheit.

Die Realität der Gegenwart entsteht an der Berührungsgrenze von Vergangenheit und Zukunft, und genau in dieser Tastsituation zwischen Früherem und Künftigem erlebt sich das Ich – und wird dabei sensibel für die Angst, die entsteht, wenn Entwicklungsursachen aus der Zukunft heraus anklopfen. Die Forderung des angstfreien Lernens reflektiert diese Situation auch für die Kindheit und die Schule. Angstfrei darf nicht bedeuten, dass Zukunftsoffenheit vermieden wird, sondern dass Vertrauen aufgebaut wird auch in diejenige Lebenssituation, in der ich mich noch nicht befinde und die durch das Lernen für die (offene) Zukunft vorbereitet werden soll.

Angst ist ein Kultursymptom

Die Angst in der Welt, von der das Johannes-Evangelium spricht, weist auf die Existenz im Körper. Leibliche Existenz kann eng werden, kann das Ich punktualisieren, bis zum Gefühl des Eingesperrtseins und der Angst. Nach der Auferweckung des Lazarus sagt der Christus des Johannes-Evangeliums: »Löst ihn und lasst ihn gehen« (Johannes 11, 44). Diese Lösung oder Erlösung, die Fähigkeit, sich wieder wirklich zu bewegen, hängt oft von einer Veränderung der Atmung ab. Leiblich gesehen ist die Angst ein Atmungsproblem, denn die Atmung vollzieht sich exakt an der Grenze von seelisch-geistiger und leiblicher Existenz. Befreiung von der Angst bedeutet in der Regel, anders atmen zu lernen. Aber nicht durch willkürliche Atemregulation, sondern durch ein neues Denken und Erleben, das mittelbar die Atmung verändert und damit auf den gesamten Organismus gesundend wirkt – weil ich nun die Welt und den anderen Menschen besser »veratmen« kann.

Das Angstproblem der Gegenwart besitzt eine kulturgeschichtliche und wissenschaftshistorische Dimension, die die »Veratmung« der Welt belastet. In dieser Tradition wird die Welt draußen als »objektiv« und mein Erkennen und Erleben dieser »objektiven« Welt als nur »subjektiv« dargestellt. Eine ältere Überzeugung ist im wissenschaftlichen Denken, aber auch im täglichen Leben fast vollständig verloren gegangen: dass Wirklichkeit mein Verhältnis zur Welt, also mein Interesse, meine Intention und mein Erkennen voraussetzt. Ähnliches bestimmt auch die Beziehung zum anderen Menschen. Weder er noch ich sind »objektiv«, und wir sind auch nicht nur »subjektiv«, sondern wir werden so, wie wir uns begegnen können. Das gilt insbesondere für die Beziehung zu Kindern und Jugendlichen.

Wenn ich die Welt draußen als »objektiv« erlebe, mein Bewusstsein aber nur als »subjektiv«, dann bin ich in mir eingesperrt, isoliert, ohne Wirkung auf das Ganze. Ein solches Lebensgefühl und eine solche Erkenntnishaltung müssen mittelfristig Angst, Depression und Isolation bis hin zu autismusähnlichen Empfindungen auslösen.

Pädagogische und therapeutische Gegenmaßnahmen weisen immer in die Richtung, das Ich als wirklichkeitskonstituierende Kraft im Denken und Erleben zu verankern. Daraus lassen sich neue Erlebnisräume des Ich aufbauen. Die Individualität tritt dann in einen wirklichkeitserfüllten Empfindungsraum ein, der es wieder mit der Welt verbindet. Der Gegensatz von subjektiv und objektiv ist darin aufgehoben.

Gelingt der Eintritt in solche Erlebnisräume nicht, dann muss sich das Ich zunehmend in das Zentrum der eigenen Körperlichkeit eingesperrt fühlen, kann seine Umgebung, die Ich-Peripherie, nicht mehr zu sich zählen: ein Ich nur als Punkt, ohne Raum, aber auch ohne Haut, an jeder Stelle überempfindlich. Hier wird auch deutlich, dass nicht die punktuelle Angstsituation das eigentliche Problem darstellt, sondern der Umraum und das darauf Folgende. Die Angst lässt sich mit dem Frieren vergleichen: Das Gefühl des Frierens wird dann besonders schlimm, wenn keine Aussicht auf eine mögliche Erwärmung besteht.

Wenn wir aufwachen, verschwindet die Angst

Zu den wirksamsten Illusionen des 20. Jahrhunderts gehört die Auffassung, dass Probleme gelöst werden können und müssen. Dabei gerät aus dem Blick, dass Lebensprobleme und Lebenssituationen oftmals unlösbar sind. Und es wird in dieser Perspektive die Erfahrung übersehen, dass eine Veränderung im eigenen Erleben die Schwierigkeit manchmal nicht löst, sondern verschwinden lässt, sie in ihrer Bedeutung aufhebt. Damit ist nicht ein irrationales »positives« Denken oder ein Schönreden von Problemen gemeint, sondern eine reale Situationsveränderung, die als Kraftwirkung eintritt, wenn ich in Denken und Erleben für mich aufwache.

Dazu gehört auch, zu erkennen, wie wichtig die Erfahrung ist, sich vom anderen Menschen mitempfunden empfinden zu können. Die Angst vor der Zukunft und vor neuen Aufgabenstellungen wird gelöst, wenn ich spüren kann, dass ein anderer meine Weltbegegnung miterleben kann. In der Regel ist es nicht einmal notwendig, mit dem Betreffenden über die aktuelle Situation zu sprechen; ich muss mich lediglich von ihm darin miterlebt erleben können. Es handelt sich also um die prinzipielle Gewissheit, dass diese Art menschlicher Intersubjektivität Grundlage der eigenen und der Weltwirklichkeit ist. In letzter Konsequenz muss man sogar formulieren, dass die »Objektivität« der Wirklichkeit von der »Subjektivität« eines solchen zwischenmenschlichen Lebenshintergrunds abhängt.

Das bisher Gesagte legt nahe, dass ein neues Verständnis des Gefühls notwendig ist, um Angst zu überwinden. Zunächst kann sich das Lebensgefühl von dem bereits erwähnten Irrtum befreien, Gegenwart entwickle sich aus der Vergangenheit. In der Folge dieses problematischen Denkens und Erlebens verliert die Zukunft ihre Wirksamkeit in der Gegenwart, und die Gegenwart erscheint nur wie eine verlängerte Vergangenheit. In einem solchen Erleben muss jede Zukunftsberührung, die wesensmäßig undefiniert, unabsehbar und unberechenbar ist, Angst auslösen. Demgegenüber kann spürbar werden, dass Angst sich verflüchtigt, wenn ich meiner Intention folge, die vielleicht momentan noch gar nicht begründbar ist. Ihre Begründung zeigt sich erst, wenn ich sie verfolge, also in der Zukunft, die sie vorbereitet. Dann wird erlebbar, dass mein Gefühl und meine Intention nicht nur in mir stecken, sondern in kleinen Kraftschlüssen weltwirksam werden können.

So muss auch an den Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens über den Menschen und insbesondere der Psychologie gearbeitet werden, um Belastungen, Bedrängung und Angst zu überwinden – oder noch wichtiger: um ihnen vorzubeugen. Die Kraft zur Überwindung und Vorbeugung der Angst – nicht zu ihrer Verleugnung oder Verdrängung – liegt auch in der Gewissheit eines »Danach«.

Eine Psychologie, die die Zukunft einbezieht, kann zeigen, dass es immer ein »Danach« gibt; dass die Bezugnahme auf den eigenen Willen tragfähig werden kann, auch wenn das aktuelle Erleben von Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist. Daraus ergibt sich, dass nicht die momentane Erlebens­situation, sondern die individuelle Bezugnahme auf das »Danach« im Umgang mit der Angst entscheidend ist.

Zum Autor: Dr. Dr. Wolf-Ulrich Klünker ist Professor für Philosophie und Erkenntnisgrundlagen der Anthroposophie an der Alanus Hochschule Alfter und Begründer der Delos-Forschungsstelle für Psychologie in Berlin.

Literatur: W.-U. Klünker: Die Antwort der Seele. Psychologie an den Grenzen der Ich-Erfahrung, Stuttgart 2007. Ausführlicher zu diesem Thema, auch in therapeutischer Hinsicht: W.-U. Klünker, J. Reiner, M. Tolksdorf, R. Wiese: Psychologie des Ich. Anthroposophie – Psychotherapie, Stuttgart 2016.