»Wer war Christus?«, ist die immer wiederkehrende Frage in diesem Buch und es wird deutlich und ist durchaus spannend zu lesen, wie sich Steiners Beschreibungen immer mehr differenzieren und verfeinern und wie er immer weitere Dimensionen in dem Versuch erringt, dem Wesen des Christus auf die Spur zu kommen.
Weil dieses Wesen für Steiner eng mit dem Ich des Menschen verbunden ist, auf dem Schulungsweg in verschiedenen Stufen immer wieder wahrnehmbar wird und schließlich zentral für die gesamte kosmische Entwicklung ist, muss auch Ravagli auf diesen drei Spuren seine Leser leiten.
Dabei folgt er chronologisch den Buchveröffentlichungen und Mitschriften der vielen Vorträge und Vortragsreihen zu diesen Themen. Es ist äußerst hilfreich, dass der Autor den entsprechenden Vortrag bzw. Zyklus genau auf die vorliegende Nachschrift, Mitschrift oder stenographische Grundlage untersucht und insofern die gemachten Aussagen auch kritisch beleuchtet.
Bei umfangreicheren Darstellungen wird der Leser mit einer recht komprimierten und sehr hilfreichen Zusammenfassung in die jeweilige Thematik geführt und dann erfolgt jeweils eine intensive Einordnung der wichtigsten Aussagen in die Darstellungen aus anderen Vorträgen oder Schriften. Bei den Buchveröffentlichungen untersucht Ravagli nicht nur die vorliegende letzte Auflage, sondern spürt den verschiedenen durch Steiner selbst vorgenommenen Überarbeitungen nach. So wird z.B. bei der Geheimwissenschaft im Umriss deutlich, dass die Darstellung in der Buchform 1909 nicht so weit in der Differenzierung geht, wie die Mitgliedervorträge desselben Jahres, diese Ausdifferenzierung aber in den folgenden Auflagen bis 1925 nachgeholt wird.
Immer wieder schärft Ravagli durch seine eigenen Fragestellungen das Bewusstsein des Lesers für die Suchbewegung Steiners, der unentwegt bemüht war, seine Imaginationen und Intuitionen aus den verschiedenen Perspektiven, aus denen man dem Wesen des Christus auf die Spur kommen kann, zu beleuchten. Der Weg zum Wesen des Christus ist schließlich für Steiner der Schulungsweg, den die Menschen für die Entwicklung der Welt zu einem »Kosmos der Liebe und der Freiheit« zu gehen haben. Das Buch stellt eine wichtige Hilfe dar, diesen Weg nachzuvollziehen und es ermöglicht dem Leser, Aussagen aus einzelnen Vorträgen oder Zyklen in die Genese und den Gesamtzusammenhang der Anthroposophie einzuordnen, die im Lauf des Lebens Rudolf Steiners und seines Erkenntnisfortschritts immer mehr Gestalt annimmt.
Eines wird durch die methodische Herangehensweise des Autors besonders deutlich: das, was Steiner als »Anthroposophie« bezeichnet hat, war zu keinem Zeitpunkt seines Lebens ein System dogmatischer Sätze, das geeignet wäre, zum Inhalt eines Bekenntnisses gemacht zu werden, sondern ein offener Prozess, der auch heute, bald hundert Jahre nach seinem Tod, dazu anregt, ihn aufzugreifen und fortzuführen. Daher verwundert es nicht, wenn man am Ende der Lektüre des vorliegenden Buches keine formelhafte Antwort auf die Frage geben kann, »wer Christus war« – oder ist. Vielmehr ist die Suchbewegung selbst, die man bei der Lektüre verfolgt, ein Erkenntnisweg, um sich seinem letztlich unausschöpfbaren Wesen anzunähern.
Lorenzo Ravagli, Rudolf Steiners Weg zu Christus – Von der philosophischen Gnosis zur mystischen Gotteserfahrung, Pb., 568 S., Norderstedt 2018, Euro 30, –