Waldorf erklärt

Anschluss an den musikalischen Schöpfungsquell finden

Auch geschliffene Glasstückchen können Geräusche machen. Foto: © Tom Schulze

Sandra Brose | Teilen Sie ein paar biografische Notizen mit uns?

Reinhild Brass | Abends hörte ich den Vater, der Musiker war, spielen – am liebsten Bach auf dem Flügel. Alle sechs älteren Geschwister spielten ein Instrument und wir sangen als Familienchor zusammen. Ich selbst lernte Geige und Klavier. Später, als Erwachsene, entdeckte ich die Leier und war so begeistert, weil das ein Ton war, der mich bis ins Innerste berührte. Nach meinem Examen schloß ich ein anthroposophisches Studium in der Freien Musik Schule an. Darauf folgte ein Wanderstudium »Kunst – Pädagoik – Therapie«. In Deutschland, Holland, Schweden, Schottland und der Schweiz zog ich von einem Lehrer zum anderen, die Schwerpunkte waren Leier, Stimmenthüllung, Improvisation und Eurythmie. Danach war ich auf die Arbeit in der Schule vorbereitet. In Wattenscheid war ich 21 Jahre Musiklehrerin und habe einen Durchgang als Klassenlehrerin gemacht. Da ich sehr früh Kontakt zu Manfred Bleffert hatte, kam ich von Anfang an in den Genuss seiner neuen Instrumente. Musikunterricht hinter der Bank sitzend, wie ich es selbst erlebt hatte, war damit unmöglich. Diese Instrumente verlangten nach Bewegung! Schüler:innen wie Eltern dachten, dass das normal an einer Waldorfschule sei und mein Kollegium unterstützte meine Arbeit von Anfang an. So brauchte ich keine Erklärungen abgeben, dass ein Musikunterricht nicht allein aus Blockflöten- und Klavierspiel bestand. Frei erkundeten wir neue Instrumente.

SB | Die Audiopädie war geboren? Hört sich nach einer Suche an ...

RB | Immer wusste ich, dass dieser Weg, von dem ich nicht wusste, wo er hinführte, der richtige für mich war. Die  Schwierigkeit war, dass ich starke musikalische Erlebnisse hatte, aber nicht gleich alles erklären konnte. Erst als ich 2000 nach Witten/Annen ans Lehrerseminar gerufen wurde und unterrichten sollte, stellten sich Begriffe für meine Arbeit ein, fünf Jahren konnte ich das Fach Audiopädie aufbauen. Heute lebe ich frei schaffend in Witten. Ich gebe verschiedene Kurse und eine zweijährige Ausbildung zur Audiopäd:in, die im Januar 2023 zum vierten Mal startet. Die neuen Kolleg:innen bauen ihr Instrumentarium auf und Audiopädie wird bekannt. Es gab viele Fehlschläge, aber auch Glücksmomente. 2009 veröffentlichte ich das Buch Hörwege entdecken – Musikunterricht als Audiopädie.  

SB | Was meint denn »Hörwege«? 

RB | Zunächst bedeutet es, dass der Musikunterricht aus der Bewegung erfolgen sollte. Es ist der Körper, der hört. Die Ohren sind Reflexionsorgan! Was gehört wird, wird mit dem gesamten Bewegungsmenschen wahrgenommen. An den Bewegungen kann die geübte Lehrer:in erkennen, wie ein Kind hört. Ist der Gang hart und unsensibel, kommt ein Kind überhaupt in Bewegung, in einen Fluss? Hören üben kann ich zunächst an Bewegungen. Deshalb ist erste Aufgabe im Musikunterricht, sich zu bewegen, immer zielgerichtet, verbunden mit einer Aufgabe. Aufforderungen, man sollte besser hören und still sein, fruchten gar nichts, sie sind sinnlos. 

Hat das Kind über den Körper, über die Bewegung essenzielle musikalische Parameter geübt, sind sie tief in den Gewohnheiten verankert, dann können sie allmählich in seelische Qualitäten umgewandelt werden. Das ist das allererste Motiv für die Audiopädie. Hören lernen – und dann kann ich Musik erleben und selber machen! Audiopädie ist nie in Konkurrenz zum Musikunterricht zu denken, sondern als Vorbereitung, Vertiefung und Möglichkeit, alle Kinder an ihre musikalischen Quellen zu führen, um von dort aus Musik und sich zu erleben. Wenn die Sphäre des Hörens aufgeschlossen wird, können alle sich mit Freude als musikalisch als schöpferische Musiker:innen entdecken.

SB | Das klingt therapeutisch; es kommt Ihnen dabei vor allem auf die Bewegung an?

RB | Am Hören kann ich nicht direkt üben, aber an den Bewegungen das Hören studieren und es verfeinern. Die Kinder erleben zuallererst musikalische Elemente durch und in Bewegung. Die größte Entdeckung im Musikunterricht war für mich, dass es einen tiefen Zusammenhang zwischen Bewegung und Hören gibt. Wenn ich über das Hören gehe, wird die Pädagogik immer zur Therapie. Ich glaube, dass heute alle Lehrer:innen immer auch Therapeut:innen sein müssen. Alle Abgrenzungen, was Musik ist und was nicht, können beendet werden. Ebenso die Trennung zwischen Pädagogik und Therapie. Wenn ich als Lehrer:in nicht therapeutisch, heilend oder schützend arbeite, kann ich es gleich lassen. Wenn ich als Therapeut:in nicht pädagogisch arbeite, werde ich auch nicht wirksam werden.

SB | Ihre Forschungen haben Sie reisend vertieft, besonders in Asien ist Audiopädie durch Sie sehr bekannt?

RB | 1988 wurde ich nach Japan eingeladen. Der Zuspruch der japanischen Freund:innen hat mich durch manchen Zweifel getragen, der mir in Europa, vor allem in Deutschland entgegenkam. Es war ein Glück, dass ich immer wieder nach Japan gerufen wurde und dort 2001 auch ausbilden sollte. Ich fühlte, dass es Pädagogik war, was ich machte, aber die japanischen Freund:innen meinten, es sei Musiktherapie. So war ich auf der Suche nach einem Begriff, der alles beinhaltete: Audiopädie – die Erziehung zum Hören. Heute gibt es ein Institut für Audiopädie in Tokio. Meine Arbeit sprach sich herum, 2010 wurde ich nach Korea eingeladen und gab dort in der Waldorf-Lehrer:innenausbildung über neun Jahre lang Kurse. 2015 folgten Ein­ladungen nach China und Taiwan. In Taiwan sollte 2020 eine zweijährige Ausbildung in Audio­pädie an der größten Universität des Landes starten und in Peking 2021 eine große Tagung stattfinden. Corona hat das vorübergehend lahmgelegt. Dafür aber konnte ich meine Aktivität in Deutschland verstärken. Es gibt jetzt an den Lehrer:innenseminaren Hamburg, Mannheim, Stuttgart und Berlin Kurse in Audiopädie. 

SB | Liegt in der Audiopädie ein neuer Heilimpuls?

RB | Dass Musik eine menschenbildende Kraft ist, ist nur noch eine leere Worthülse. Schon Shakespeare zeigt in »Der Kaufmann von Venedig« – und Rudolf Steiner zitiert ihn in seinen pädagogischen Vorträgen –, dass der Mensch, der nicht Musik in sich trägt, zu Verrat, Mord und Tücke neigt. Urkräfte, die in uns allen leben, werden durch die Musik in Schach gehalten und gezähmt. Die Seele wird durch Musik ausgebildet und verfeinert. Im besten Sinne ist Musik Gewaltprävention. Sie gibt uns seelische Orientierung und stärkt. Musikunterricht sollte gerade deshalb kein Lernfach sein, sondern rein künstlerisch und schöpferisch: ein Freiraum, in dem ich mein Menschsein wachsen lassen kann. In unserer Zeit ist stark im Bewusstsein verankert, dass nur sehr gut ausgebildete Menschen sich Musiker oder Musikerin nennen dürfen. In der Audiopädie aber ist jeder Mensch Musiker:in. Durch die neuen Instrumente wird ein zutiefst berührendes Klang- und Tonerleben möglich. Das Spielen ist schnell erlernbar und da meist in der Gruppe gespielt wird, entsteht eine verbindende Kraft, die beglückt. Ich erkenne andere in einer Schicht, die sich im Reden gar nicht auftut. Audiopädie ist inklusiv, hier findet keine elitäre Aussonderung statt. Geübt wird, in die Materialien herein zu hören und das überträgt sich auf den Menschen. Ich höre mich in mein Gegenüber hinein! Natürlich wissen auch Schüler:innen, dass Fehler hörbar sind. Hier müssen Lehrer:innen mit großem Taktgefühl den Weg begleiten. Zuerst geht es darum, die Hörwege der Kinder zu beobachten, sie zu führen und zu begleiten. 

SB | Gab es einen besonders eindrucksvollen Moment in ihrer Arbeit? 

RB | Der eindrücklichste Moment – die innere Bestätigung für die Audiopädie – war tatsächlich bei Hospitationen im Musikunterricht verschiedener Schulen. Im Unterricht, der auf Zuhören basiert, zu bemerken, dass überhaupt nicht zugehört wird, sondern alles von außen mit viel Druck und Regulierungen geschah – das war erschütternd. Es war, als wenn ein Schleier weggezogen wurde und deutlich wurde, es ist alles Illusion, was hier betrieben wurde!

SB | Was ermöglicht die Audiopädie in Abgrenzung zum Musizieren?

RB | Hier schließe ich einen zweiten Augenblick an, als mir bewusst wurde, dass der Begriff Musik so gefüllt ist mit Vorurteilen. Ich kann kein Instrument spielen, also bin ich keine Musiker:in. Doch in allererster Linie ist Musik eine Kraft, die durch uns Menschen zur Erde kommt! Nur durch uns. Und sie hängt davon ab, wie und was wir erleben können. Jeder Mensch ist Musiker:in. Bei Vielen schläft die Fähigkeit oder ist durch negative Erfahrungen verdeckt. Aber es ist die Aufgabe der Lehrer:in, dies freizulegen. Damit alle Menschen teilhaben können an der Kraft, die uns zum Menschen macht. Denn wir alle sind aus Musik, aus kosmischen Strömen gebildet.

SB | Welchen Raum braucht es, um ins Hören zu kommen?

RB | Einen Raum, in dem wir uns und die anderen erleben und uns daran selber erziehen können. Aus der Arbeit als Dozentin an den Seminaren weiß ich von den beklagenswerten Zuständen, die Musiklehrer:innen an den Schulen vorfinden. Zu oft gibt es keine geeigneten Räume, in denen die Kinder sich bewegen können, Instrumente fehlen, ein schwieriger Stundenplan und riesige Klassen kommen dazu. Große Werke sollen aufgeführt werden, was aber oft auf Kosten eines gediegenen Unterrichtes geht. Etabliert hat sich – und das ist auch richtig so –, dass Eurythmie­lehrer:innen einen eigenen Raum, in der Regel mit Klavier­begleitung, und halbe Klassen haben. Für Musiklehrer:innen
fehlt dieses Selbstverständnis, um gute Arbeit zu gewährleisten. Sie brauchen deutlich mehr Spielräume!

SB | Welche Klänge brauchen wir zukünftig?

RB | Hören verbindet, das müssen wir wieder wahrnehmen. Das Zuhören beschränkt sich nicht auf die Musik, sondern erstreckt sich auf Sprache, auf seelische Äußerungen, auf Bewegung, Blicke, Berührungen. Es zu schulen sensibilisiert uns für die anderen. Und Audiopädie will die Musik für alle Menschen wieder möglich werden lassen. Das gilt für Menschen jeden Alters – in Europa, in Asien, in
Amerika und sicher auch in Afrika und Australien. Die Arbeit in China zeigte, dass Menschen durch die Audiopädie wieder an ihren musikalischen Schöpfungsquell an­schließen können.

SB |  ... und bezogen auf Waldorfpädagogik?

RB | Über hundert Jahre wurde in der Waldorfpädagogik das bildhafte Unterrichten geübt, jetzt ist es an der Zeit, das Hören in den Fokus zu nehmen. Wir brauchen neue Klänge und Räume der Stille. Wir müssen erkennen, dass die Kunst des Zuhörens uns Räume eröffnet, in denen wir uns und andere Menschen neu wahrnehmen können und in ein Miteinander kommen.

audiopaedie.de | Kontakt zu Reinhild Brass: info@audiopaedie.de

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