Anschlussbedarf

Mathias Maurer

Die Waldorfschule ist ein Kind der sogenannten »Dreigliederungsbewegung«. Sie verstand sich als Teil einer Bewegung, die eine neue Gesellschaftsordnung einführen wollte. Rudolf Steiner mischte sich mit seinem Aufruf »An das Deutsche Volk und an die Kulturwelt« in die Politik ein, verfasste Bücher wie »Die Kernpunkte der sozialen Frage« und hielt Vorträge zur »Erziehungsfrage als sozialer Frage« – sie bieten nach wie vor hochaktuellen »Stoff«, der in keiner Lehrerbildung fehlen sollte. Steiners Ansatz bestand jedoch nicht nur darin, die drei Ideale der Französischen Revolution – »Liberté – Égalité – Fraternité« – wieder aufzuwärmen oder kapitalistische und kommunistische Gesellschaftssysteme zu kritisieren, an deren Einseitigkeiten wir heute mehr denn je global zu leiden haben. Vielmehr entwarf er eine dreigegliederte Gesellschaftsordnung, die an die anthropologischen Lebensgesetze des einzelnen Menschen anschließt, funktional und strukturell nicht im Widerspruch zu diesen Lebensgesetzen steht und dadurch eine sozial heilsame Wirkung entfalten könnte.

Es ist ohne Weiteres nachzuvollziehen, dass die Freiheit ihren Quellort im Denken des Menschen hat. Sie bildet die Grundlage für unser Kultur- und Bildungswesen. Nur als Gleicher unter Gleichen ist ein soziales Miteinander möglich. Gleichheit bildet die Grundlage für unser Rechtsleben. Im »Stoffwechsel«, in der Erzeugung, Verteilung und im Verbrauch von Gütern, im Wirtschaftleben unserer Gesellschaft lebt Brüderlichkeit – selten verbrauchen wir das, was wir erzeugt haben.

Jedes der drei »Systeme« bedarf der relativen Autonomie und der geregelten Übergänge, um gesund sowohl im Menschen als auch in einem sozialen Organismus wirken zu können.

Konkret ausgedrückt: wir brauchen eine Wirtschaft, die Produzenten, Konsumenten und Händler an einen Tisch bringt, für gerechte Preise, menschenwürdige Produktionsbedingungen und nachhaltige Produkte sorgt, die reale menschliche Bedürfnisse befriedigen, statt globalen egoistischen Wettbewerb ohne Rücksicht auf Verluste. Wir brauchen ein selbstverwaltetes Bildungs- und Kulturleben, frei von wirtschaftlicher Abzweckung oder staatlicher Bevormundung, in dem sich Phantasie und Intuition frei entfalten können. Und wir brauchen ein rechtliches und politisches Leben, das sich auf die Überwachung und Durchsetzung allgemeiner Rechte beschränkt und in dem alle nach demokratischen Regeln mitreden können.

Die Idee der »Dreigliederung des Sozialen Organismus« darf keinem Waldorfschüler in Anbetracht der brennenden Nöte unserer Zeit vorenthalten werden und gehört in jeden Lehrplan. Mir scheint, es gibt Anschlussbedarf. Es geht um mehr.