In seinem Beitrag stellte Ullrich vier Perspektiven auf die Waldorfpädagogik dar: 1) den reformpädagogischen Diskurs, 2) einen systematischen Blick auf die Waldorfpädagogik, 3) eine Analyse ihrer theoretischen anthropologischen Grundlagen und 4) die empirische Forschung.
Die ersten beiden können leicht zusammengefasst werden: Aufgrund seiner vielfachen Untersuchungen ist es für Ullrich eindeutig, dass die Waldorfpädagogik zwar in der gleichen Zeit wie die anderen Richtungen der Reformpädagogik entstanden ist, aber viele signifikante Unterschiede aufweist. Im nächsten Schritt stellte er seine Beobachtungen anhand von einigen Beispielen dar und betonte, dass die Waldorfpädagogik eine anthroposophische Schulkultur »aus einem Geist« sei. Es zeigte sich in diesen Ausführungen, dass Ulrich auf allen Ebenen das darstellt, was er von den Waldorfschulen wahrnimmt und dass er seine Beobachtungen schließlich unter bestimmten Gesichtspunkten zusammenfasst. Ullrichs Sicht ist ein Spiegelbild unserer Schulen. In seinem Beitrag war, im Gegensatz zu seinem Buch, keine polemische Note zu bemerken, sondern vor allem der Blick eines Erziehungswissenschaftlers auf die Bemühungen der Schulen, ein ganzheitliches Bild ihrer Erziehung zu geben, das die einzelnen pädagogischen Maßnahmen, dieses Bild selbst und die Pädagogik den Eltern gegenüber zu begründen versucht. So stellte er nach seinen Untersuchungen fest, dass insbesondere der »Lehrplan« und die Methodik inhaltlich durch den Gründer Rudolf Steiner inspiriert seien.
Ullrichs kritischste Anmerkungen bezogen sich auf die von ihm festgestellten »theoretischen Grundlagen der Waldorfpädagogik«, die seiner Ansicht nach alle direkt aus der Anthroposophie entstammen. Er stellte drei Kernbereiche heraus: Die Lehre von den Wesensgliedern, von den Jahrsiebten und den Temperamenten. An diesen drei Bereichen zeigte er, dass Steiner (seiner Ansicht nach) auf antike, also aus seiner Sicht vorwissenschaftliche Theorien zurückgegriffen habe. Ganz ohne Polemik machte er deutlich, wie aus der Sicht der gegenwärtigen Wissenschaft, oder zumindest aus der Sicht vieler Wissenschaftler, die Denkformen Steiners im Sinne Cassirers heute als »Formen mythischen Denkens« gewertet werden müssten. Er stellte heraus, dass er durchaus das Paradox wahrnehme, dass die Anthroposophie den Anspruch habe, das Denken und die zeitgenössische Wissenschaft zu erweitern, »die Wissenschaft« selbst aber nur den Rückgriff der Anthroposophen auf »vorwissenschaftliches«, mythisches Denken konstatieren könne.
Im abschließenden Teil ging er auf die empirischen Untersuchungen zu Waldorfschulen ein und stellte als erstes anhand von Beispielen dar, dass die Waldorfschulen vorwiegend eine bildungsbürgerliche Klientel ansprächen.
Das Format des Kolloquiums sah vor, dass es nach jedem Beitrag Fragen und Anmerkungen der Teilnehmenden gab.
Insbesondere wurde in der an Ullrichs Beitrag anschließenden Diskussion darauf hingewiesen, dass es so scheine, als ob er sich nicht auf die originalen Aussagen Steiners beziehe, sondern sich an Ergebnissen orientiere und daraus auf das Denken zurückschließe. Es wurde gefragt, ob das ein wirklich wissenschaftliches Vorgehen sei. Weiterhin wurde angemerkt, dass Gedanken, die heute als nicht-rational bezeichnet werden, nicht automatisch prärational (vorwissenschaftlich) sein müssten, sondern auch postrational, also zukünftig sein könnten.
Als zweiter Wissenschaftler trat der Philosoph Hartmut Traub auf, der insbesondere durch sein umfangreiches Buch »Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners – Grundlegung und Kritik« bekannt geworden ist. Neben einigen klar und markant formulierten Seitenhieben ging er insbesondere auf die Frage des mythischen Denkens und der sogenannten Vorwissenschaftlichkeit Steiners ein. Er sieht Steiners Auseinandersetzung mit Kant und der Wissenschaft seiner Zeit als sehr tiefschürfend und profund an und zeigte dies insbesondere am Ich-Begriff Steiners und Kants. Er stellte fest, dass Steiner ausdrücklich einen neuen Schritt ging, den er nicht als mythisch bezeichnen wolle, sondern ausdrücklich nur als anthroposophisch bezeichnen könne. Hier stellte er keinen Bruch in Steiner Denken fest, wie Ullrich diesen mit dem Beginn der theosophischen Zeit ab 1902 bemerkt zu haben glaubte. Und er beendete seinen Beitrag mit der nachdenklichen Überlegung, dass das anthroposophische Denken sicher nicht so viel seelischen Schaden und kollektive menschheitliche Katastrophen hervorgerufen habe, wie der Wissenschaftsglaube der Neuzeit. Mit Hieronymus Bosch und viel Humor endend, schlug er einen »wissenschaftlichen Surrealismus als Weg zu Steiners Denkformen« vor.
Im dritten Beitrag ging Albert Schmelzer von dem Institut für Waldorfpädagogik, Interkulturalität und Inklusion in Mannheim auf vier Kernbereiche des Buches von Heiner Ullrich ein. 1. Die wissenschaftstheoretische Stellung der Anthroposophie, 2. die Rezeption der Entwicklungspsychologie Steiners durch Ullrich, 3. deren Kontextualisierung und 4. deren Bewertung durch Ullrich.
Insbesondere stellte Schmelzer dar, wie Steiner immer wieder einen lebendigen, multiperspektivischen Blick auf den Menschen anrege. Es gebe in der Entwicklungspsychologie Steiners nichts Schematisches oder Starres. Steiner wehre sich ausdrücklich gegen eine »Versteinerung«. An vielen Stellen weiche er alles Starre der Siebenjahresrhythmen auf und weise die Lehrerinnen und Lehrer auf individuelle Situationen der Kinder und Jugendlichen hin. Insofern sei die These Ullrichs von der starren Lehre der Jahrsiebte und anderer Schemata – insbesondere auch durch viele Hinweise auf gegenläufige individuelle Entwicklungssituationen der Kinder – nicht haltbar. Im Hinblick auf die Kontextualisierung von Steiners Entwicklungspsychologie wies Schmelzer darauf hin, dass Steiner einerseits auf seine vielschichtigen Erfahrungen bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen gebaut habe, aber auch maßgebliche Entwicklungspsychologen seiner Zeit, wie Wilhelm Preyer, Wilhelm Ament, Wilhelm August Ley und William Stern bearbeitet habe, allerdings ohne sich am öffentlichen Diskurs über sie zu beteiligen.
Der abschließende Beitrag von Paula Bleckmann, die dankenswerterweise für den erkrankten Dirk Randoll eingesprungen war, behandelte nicht mehr direkt das Buch von Ullrich, sondern ging auf die Erfolgsgeschichte der Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen ein. Sie wies auf eine von ihr und Heinz Buddemeier im Jahr 2005 veröffentlichte Studie hin. Anschließend wandte sie sich dem aktuellen Projekt »Media Protect« zu, das von Krankenkassen gefördert wird und zu zeigen versucht, wie Eltern und Erziehende an staatlichen Einrichtungen Kindern und Jugendlichen einen Weg in die Welt der Medien ermöglichen können, der schließlich zu einem selbstbestimmten Umgang führt. Die Inhalte und Methoden dieses Projektes sind direkt aus waldorfpädagogischen Erkenntnissen entstanden.