Eine Hauptquelle dieser Kritik ist der nordamerikanische Autor Peter Staudenmaier, der die Anschauung vertritt, dass Rudolf Steiners Gesamtwerk von rassistischen Äußerungen durchzogen ist, die für die Anthroposophie und ihre Evolutionsanschauung grundlegend sind (Rose S.19/20). Viele Kritiker berufen sich auf diesen Autor, der Aussagen Steiners wie »Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse« als Beleg für seine Thesen ansieht. Demnach habe Steiner eine Form des weißen (arischen bzw. germanischen Suprematismus) vertreten und gilt ihm als Wegbereiter nationalsozialistischen Gedankenguts. Was aber verstand Steiner unter arischer Rasse und ist die Zukunft in der anthroposophischen Evolutionslehre wirklich weiß? (Rose S. 26). Mit dem Buch von Rose liegt endlich auch für den angelsächsischen Bereich eine fundierte Widerlegung des Rassismusvorwurfs vor, was im deutschen Sprachraum schon vielfältig geschehen ist.
Rose zeigt vier unterschiedliche Bedeutungen des Ausdrucks »Rasse« bei Steiner auf (S. 91-110):
- als ausgestorbene Spezies – wenn Steiner über die Urzeiten der Erdentwicklung spricht
- als Kulturzeitraum – insbesondere für die Zeit ab der nachatlantischen Periode,
- als zukünftige moralische Gemeinschaft mit dem Ziel, Toleranz und friedliches Zusammenwirken aller Rassen sowie Völker der Erde zu erreichen,
- als biologische Rasse (Beschreibung physiologischer Eigenschaften), die von einer geistig-seelischen, ichhaften Entwicklung zu unterscheiden sind.
Rose stellt die Frage, was überhaupt Grundmerkmale des Rassismus sind.
Dazu gehören die Determination einer Person oder eines Volkes durch biologische Merkmale, d.h. körperliche Eigenschaften wie Hautfarbe, Körperbau usw. die das geistig-seelische Dasein bestimmen.
Auch die Ich-Entwicklung wird im Rassismus als dem Vererbungs- und Blutstrom unterliegend interpretiert, der den Menschen zum Angehörigen einer bestimmten Rasse macht.
Angehörige der weiße Rasse gelten dem nationalsozialistischen Rasseverständnis z. B. als höherwertig und wertvoller als Menschen mit anderen Hautfarben.
Aufgrund dieser Höherstellung, werden Diskriminierung, Ungleichbehandlung, Aberkennung von Rechten, Freiheitsberaubung usw. gerechtfertigt.
Die Sicht der Waldorfpädagogik und das anthropologische Verständnis der Anthroposophie ist umgekehrt: Der Persönlichkeitskern eines Menschen, seine Geist-Individualität inkarniert sich in einer Leiblichkeit mit ihrem generationsübergreifenden Erbstrom (von Eltern, Großeltern usw.). Ziel der Verkörperung ist es jedoch, die ererbte Leiblichkeit nach der individuellen Ich-Signatur umzugestalten und den Leib dadurch zum Ausdruck der Ich-Initiative werden zu lassen. Gestaltwandel, Trotzphasen, Krisen und altersspezifische Entwicklungsstufen sind Merkmale dieser Evolution.
Erziehungsziel ist es, die Autonomie, die individuelle Selbstwirksamkeit zu fördern um sie im Leben mehr und mehr entfalten zu können.
Insofern stellt für Rose die individuelle Selbstwirksamkeit »den vollkommenen Gegensatz zum Rassismus dar, sie ist mit ihm nicht kompatibel« (Rose S. 73).
Die Autonomie des Menschen führt nicht zur Hybris der eigenen Egoität, sondern zur Fähigkeit sich mit eigenen Ideen selbstlos in einen Menschenzusammenhang stellen zu können. Dies findet sich z.B. in dem »sozialen Hauptgesetz« Steiners wieder: »Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden« (Rose S.80 – Zitat Steiner 1905/1958 GA 34, S. 213).
So wie das Kind zunächst vom Vererbungsstrom geprägt wird, erfährt auch die Menschheit in ihren frühen Stadien geographisch-klimatologische Einflüsse, die zu unterschiedlichen körperlichen Merkmalen (wie verschiedene Hautfarben) führen. Steiner beschreibt diese physiognomischen Unterschiede ohne Werturteil (höher-niedriger) – wenn die Aussagen im Gesamtkontext der Evolution betrachtet werden. Denn für »ihn ist Rasse nur eine Stufe auf dem Weg zur Individualität« (Rose S. 109).
Betrachtet man das oben angeführte Zitat über die Weißen als zukünftige Rasse unter den von Rose ausgearbeiteten Gesichtspunkten zeigt sich, dass es sich bei ihr um eine längst ausgestorbene Spezies handelt. Denn Steiner hat sie in Bezug auf den Übergang von der Atlantis zur ersten nachatlantischen (indischen) Kulturperiode im Blick. Diese beschriebene weiße Rasse aber gibt es nicht mehr.
Zum anderen beschreibt Steiner wie sich nach der Atlantis die damals vorhandenen Rassen vermischen und in die sog. arische Wurzelrasse übergehen. Diese (weiße) arische Rasse setzt sich aus der Menschheitsbevölkerung zusammen, wie sie seit dem indischen Kulturzeitraum (8.Jt. vor Chr.) bestand. »Bei den großen Wanderzügen war all das, was auf der Atlantis entstanden war, zusammengewürfelt worden, durcheinandergemischt. Man sollte daher in der nachatlantischen Zeit nicht mehr von Rassen sprechen, sondern von Kulturen« (Rose S. 118 – Zitat: Steiner 1909/1978 GA 109, S 245). Es handelt sich also um eine zusammengewürfelte arische Rasse, was den Rassismusbegriff ad absurdum führt. Denn tatsächlich müsste der Ausdruck »Rasse« durch »Kultur« ersetzt werden. Es ist also gar keine biologische Rasse gemeint. Diese »am Geiste schaffende Rasse« (»Kultur«) bedeutet, dass zunächst im alten Indien eine bestimmte Bewusstseins- und Kulturstufe durchlebt wird, wie es in entsprechender Weise später bei den Griechen geschieht oder in der Gegenwart des Bewusstseins-Seelenzeitalters. Die Bewusstseinsentwicklung der verschiedenen Kulturepochen mündet dem Ideal nach in eine freiheitsliebende und geschwisterliche Geistkultur der Individualität; insofern wird tatsächlich gegenwärtig und zukünftig am Geiste gearbeitet.
Rose kommt zu dem Ergebnis, dass Steiners Anthroposophie eindeutig unter dem »Primat von Seele und Geist« steht (Rose S.124), dem Gegenteil von biologischer Determination. Die von Steiner bezeichnete arische Wurzelrasse ist nichts anderes als der gesamte nachatlantische Kulturzeitraum und beinhaltet ein völlig anderes Verständnis des Arischen. Denn nach der »arischen« Kulturperiode kommen »nicht-arische« Kulturzeiträume (»Rassen«). Wo ist da der vermeintlich weiße Suprematismus geblieben?
Es existieren in der Tat im Werk Steiners eine Reihe merkwürdig erscheinender Formulierungen zum Thema »Rasse«. Gewichtet man jedoch den Wortgebrauch im Gesamtkontext der Anthroposophie, kann bei unbefangener Prüfung gesehen werden, wie Steiner das Gegenteil von Rassismus vertritt. Wenn Anthroposophen, Waldorflehrer usw. aber dennoch rassistisch tingierte Verhaltensweisen manifestieren, müsste dem entschlossen entgegentreten werden.
Wolfgang Kilthau ist Mitarbeiter im Rudolf Steiner Haus Frankfurt und am Berufsbegleitenden Lehrerseminar Frankfurt.
Robert Rose, Evolution, Rasse und die Suche einer globalen Ethik. Eine Antwort auf die Kritiker der Anthroposophie und Waldorfpädagogik. Berliner Wissenschaftsverlag, 2016