Erziehungskunst | Wie kamen Sie zur Waldorfpädagogik?
Jost Schieren | Das war eine eigentümliche Situation. Ich ging aufs Gymnasium und war einmal in der 11. Klasse aus dem Mathematikunterricht rausgeflogen, weil ich als Klassensprecher den Lehrer kritisiert hatte. Als ich dann auf dem Schulflur stand, dachte ich, was Schule doch für eine stupide Institution sei. Zur gleichen Zeit strich ein anderer Schüler, Marcelo da Veiga, durch die Flure. Er sprach mich an, wir unterhielten uns und Marcelo sagte, dass er die Idee habe, eine freie Schule zu gründen. Ich war spontan begeistert. Ja, das hört sich gut an, sagte ich. Wann treffen wir uns? Nächsten Sonntagnachmittag. Wir haben uns dann in einer kleinen Galerie getroffen und Steiner- und Witzenmann-Texte gelesen und nannten das freie Schule. Es kam noch jemand hinzu, der mit uns Eurythmie machte. Und schon nach kurzer Zeit waren wir ein Kreis von 25 Leuten.
Das bekamen die Lehrer des Gymnasiums mit und sie wunderten sich, dass die Schüler sich so engagiert zeigten. Sie griffen es auf und auf unseren Vorschlag hin wurde im Philosophieunterricht die »Philosophie der Freiheit« Steiners gelesen. In Sozialwissenschaft haben wir die »Kernpunkte der sozialen Frage« mit Klausur bearbeitet und in Pädagogik die »Erziehung des Kindes«. Drei Steiner-Texte am Gymnasium! Das war schon ungewöhnlich. Dann veranstalteten wir kleine anthroposophische Wochenendtagungen, wofür uns der katholische Religionslehrer seine Gemeinderäume zur Verfügung stellte.
Wie kommt Anthroposophie ins universitäre Leben?
Dann bin ich für das Studium nach Bochum gegangen, wo sich der ganze Kreis wieder fand. Wir haben unsere Arbeit etwas kompliziert und anspruchsvoll »Initiativkreis zur Bildung eines zeitgemäßen Hochschulbewusstseins« genannt. Daraus wurde später der »Novalis Hochschulverein«. Der Grundgedanke war: Wie bekommen wir die Anthroposophie ins universitäre Leben hinein? Als wir dann unsere Abschlüsse machten, hat sich der Kreis mehr und mehr zerstreut.
Ich bin dann Waldorflehrer in Dortmund geworden, wo ich die Möglichkeit hatte, eine berufsbegleitende Lehrerbildung aufzubauen. Es hieß »Forum Waldorfpädagogik«.
Um das Jahr 2000 kam Marcelo da Veiga, der damals in Brasilien war, zurück und wurde zunächst an der Hagener Waldorfschule Geschäftsführer. Später kam er mit der Software-Stiftung in Kontakt und wurde dort Mitarbeiter. Zu dieser Zeit beantragte die Alanus Hochschule die Anerkennung als staatliche Kunsthochschule. Marcelo befasste sich als Mitarbeiter der Software AG Stiftung mit dem Projekt. Er war sofort Feuer und Flamme für Alanus und fragte mich, ob ich mit einsteige und die Lehrerbildung entwickeln wolle. Wir hatten beide den Eindruck, dass dies eine ausgezeichnete Möglichkeit sei, unsere ursprünglichen Motive wieder aufzugreifen.
Ich hatte das Ideal, dass wir für die Waldorflehrerausbildung eine volle staatliche Anerkennung erreichen. Es kann ja nicht sein, dass Waldorflehrer, formal gesehen, immer schlechter gestellt sind als andere Lehrer. Im Kontakt mit Professor Schneider, der damals an der Paderborner Universität Waldorfpädagogik vertrat, entwickelten wir ein Lehrerbildungskonzept für die Alanus Hochschule.
Die Lehrerausbildung in Paderborn war sehr anerkannt, so dass die Universität eine Art Mantel für uns bilden konnte. Ich war dann zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Paderborn, aber auch weiterhin als Waldorfoberstufenlehrer in Dortmund tätig und habe parallel dazu die Lehrerbildung an der Alanus Hochschule aufgebaut.
Eine Perspektive für die Studenten
EK | Wann wurde der Fachbereich Bildungswissenschaft in Alfter aufgebaut?
JS | Das ging alles sukzessive. Die Software AG Stiftung hat uns unterstützt. 2007 wurde der erste Studiengang akkreditiert. Es war der erste Master, der Waldorfpädagogik als Schwerpunkt hatte. 2008 kam die Heilpädagogik hinzu, 2010 die Kindheitspädagogik, dann kam das Promotionsrecht, so dass wir den Fachbereich allmählich ausbauen konnten.
Als ich 2002 in Alfter anfing, gab es nur zwei Studierende, die sich für Pädagogik interessierten. Inzwischen zählt der Fachbereich Bildungswissenschaft 450 Studenten. Es fingen auch bald erste Kooperationen an: mit dem Lehrerseminar in Kassel und mit der Wiener Waldorflehrerausbildung und dann auch der Zusammenschluss mit der Mannheimer Einrichtung. Derzeit hat die Alanus Hochschule insgesamt rund 1.200 Studenten, wobei allein über 700 an den Standorten Alfter und Mannheim in unterschiedliche pädagogische Studiengänge eingeschrieben sind. Unser Grundgedanke ist pragmatisch: Abschlüsse für Studierende zu schaffen, die jungen Menschen eine Perspektive geben. Sie sollen den bestmöglichen Abschluss erhalten, der an keiner Stelle mehr gerechtfertigt werden muss. Sie sollen voll qualifiziert sein.
EK | Welche Studenten wählen Alanus als Studienort aus?
JS | Bei uns sind viele Studierende, die die Waldorfpädagogik erst durch das Studium kennen lernen. Sie setzen sich intensiv mit den Grundlagen auseinander, lernen aber auch, über den Tellerrand hinauszuschauen und die Waldorfpädagogik im Kontext anderer pädagogischer Richtungen zu reflektieren.
Es gibt im Kollegium Vertreter der Waldorfpädagogik und auch viele Kollegen, die andere Richtungen und ein vielschichtiges erziehungswissenschaftliches Feld vertreten. Wir versuchen, ein breites Spektrum zu schaffen. In der heutigen Hochschullandschaft haben Waldorfpädagogik und Anthroposophie nirgends einen Platz. Das ist in Alfter anders.
Steiner für alle
EK | Woran arbeiten Sie gerade?
JS | Ich hatte das Glück, ein Forschungsfreijahr zu haben, das ich in Wien verbrachte. Dort konnte ich ein Buchprojekt fertigstellen: Das »Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven«, das soeben erschienen ist. Es soll der Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft eine Stimme geben. Einen schönen Abschluss dieses Forschungsprojekts bildete die Tagung »Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft« an der Alanus Hochschule im Oktober 2016. Hier haben wir renommierte Vertreter und Kritiker der Waldorfpädagogik an einen Tisch geholt.
Langfristig schwebt mir eine Darstellung der »Allgemeinen Menschenkunde« vor, die zeitgemäß und nachvollziehbar ist und die auch die wissenschaftliche Diskussion der Gegenwart berücksichtigt. Im Grunde möchte ich das spirituelle Gedankengut Steiners in das wissenschaftliche Bewusstsein der Gegenwart transferieren. Die »Menschenkunde« verstehbar und diskutierbar zu machen, das ist mir ein richtiges Herzensanliegen. Es wird sicher schwer werden. Denn zu manchen Aussagen Steiners muss man auch eine Art Grenze ziehen. Das meint nicht, dass man sie negiert. Ich werde hier von meinen Kritikern oft falsch verstanden. Man wirft mir dann manchmal vor, ich verrate Steiner und die Anthroposophie.
Meine These ist: In dem Moment, in dem die Anthroposophie in die Lebensfelder tritt, ging es Steiner gar nicht darum, Anthroposophie einfach zu »exekutieren«, sondern er wollte, dass die Lebensfelder von der Anthroposophie profitieren. Das ist auch der Maßstab. Die Anthroposophie hat in den Lebensfeldern keinen Selbstwert, sondern einen Anwendungswert. Wenn die Anthroposophie dazu dient, gute Pädagogik zu machen, dann hat sie einen echten Wert. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie mit dem esoterischen Gehalt der Anthroposophie zu verfahren ist. Wissenschaftlich beispielsweise kann ich die Reinkarnation nicht beweisen. Ich kann daran glauben, aber im wissenschaftlichen Sinn beweisen kann ich diesen Gedanken nicht. Der Wert dieses Gedankens liegt darin, dass er die Annahme einer auf sich selbst gegründeten Individualität rechtfertigt. Das ist ein pädagogischer Wert. Der Reinkarnationsgedanke ist eine Art methodische Basis, das Kind, wie es ist, ernst zu nehmen.
Ich versuche, meinen Studenten klar zu machen, dass sie die anthroposophischen Inhalte nicht einfach übernehmen können.
Anthroposophie kann man nicht jedem zumuten
EK | Führt diese offene Methode, die überzeugend klingt, da Sie persönlich aus der Anthroposophie heraus arbeiten, nicht in Zukunft zu einer Verwässerung?
JS | Ich nehme ein Beispiel aus unserer Hochschule. Es gibt Studenten, die sagen: So, das reicht mir an Wissen über Anthroposophie und dann gibt es diejenigen, die wollen mehr wissen, die wollen tiefer in die Anthroposophie einsteigen. Für diese gibt es dann neben dem normalen Hochschulstudium Vertiefungsseminare.
Dieser Wunsch nach Vertiefung muss allerdings von dem einzelnen Studenten kommen. Ich kann sie nicht einfach jedem zumuten. Mir ist wichtig, das Freiheitsmoment in der Begegnung mit der Anthroposophie sichtbar zu machen. Ich lade dann auch Kritiker der Anthroposophie wie Helmut Zander und Heiner Ullrich ein, und es kommen sehr gute Debatten und Gespräche zustande. Die Studierenden müssen dann in der Lage sein, diese Kritik auszuhalten und auch damit umgehen können. Das ist ein mühevoller Weg, der aber nicht zur Verwässerung führt, wenn die Studenten sich ernsthaft mit dem Ideengut Steiners befassen.
Insgesamt geht es mir darum, dass die Anthroposophie für ein modernes gegenwärtiges Bewusstsein wissenschaftlich nachvollziehbar und rezipierbar wird. Dann kann sie gesellschaftlich auf eine viel breitere Resonanz stoßen und jungen Menschen wichtige Impulse für ihr Leben und ihre berufliche Tätigkeit geben.
Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer