Kinder und Narren sagen die Wahrheit

Erziehungskunst | Die Waldorfkindergärten sind regelrecht von Zwergen, Elfen und Gnomen bevölkert. Sind das nicht bloß nette Wollpüppchen?

Deirdre Goodman | Nicht nur die Waldorfkindergärten sind von Elementarwesen bevölkert, sie werden dort nur bewusster ins Spiel gebracht. Elementarwesen sind nicht physischer Natur, aber sie wirken seelisch in unserer Phantasie. Wenn Wollzwerge und Elfen uns dabei helfen, unsere Seele für die wirklichen Wesen empfänglich zu machen, dann erfüllen sie ihren Zweck. Sie sind sozusagen nur Krücken. Eigentlich reicht ein lustiges Stück Baumrinde vollkommen aus. Je perfekter und polierter die Spiel­sachen sind, desto mehr vergessen wir, dass sie nur »Stimmgabeln« sind, unsere Phantasie zum Klingen zu bringen. 

EK | Meinen Sie, dass die kleinen Kinder Elementarwesen – vor allem draußen in der Natur, im Garten oder Wald – noch wahrnehmen?

DG | Natürlich. Wir töten vieles ab in den Kindern, wenn wir als Erwachsene zu schnell etwas in Schachteln stecken, Begriffs-Etiketten ankleben. Zu sagen: »So etwas gibt es nicht. Du bildest Dir das nur ein«, kann schlimm sein. Andererseits ist es genauso furchtbar zu sagen: »Ach, Frau Soundso, das ist unsre Marie. Sie ist hellsichtig und sieht Zwerge. Marie, male doch mal ein Bild von den Zwergen. Komm, erzähl uns!« Maries inneres Bild und Seelenerlebnis hat vielleicht gar nichts mit Zwergen zu tun. Entsprechend denkt Marie: »Was reden sie da? Das ist doch Lummille!« Mein Rat ist: Keine psychologischen oder anthroposophischen Interpretationen! Alles, was wir tun können, ist einfach Staunen. 

EK | Entspringen die Zwerge und Elfen nicht nur der kindlichen Phantasie?

DG | Warum »nur«? Ich würde sagen: Ja! Das ist doch wunderbar, oder nicht? Natürlich können wir philosophisch fragen, was zuerst kam: die Menschenseele mit ihrer Phantasie oder das Wesenhaft-Lebendige in den Dingen und in der Natur. Es gibt Schwin­g­ungen in der Seele, die dieselben sind wie die Schwingungen in der Natur. Wenn sie zusammenschwingen entsteht eine Art Kommunikation. 

EK | Haben Sie schon beobachtet, dass kleine Kinder sich dazu äußern?

DG | Oh, ja, auf sehr unterschiedliche Art und Weise! Man sollte einmal kleine Babys beobachten! Nur weil sie nicht die Sprache benützen – »Mama, schau, eine Elfe!« – sollte man nicht denken, sie erlebten nichts. Wir erleben alle viel mehr, als wir denken, tagtäglich, und schauen nicht hin. Bei kleinen Kindern ist es noch da. 

EK | Warum verlieren die meisten Menschen diese Wahrnehmungsfähigkeit?

DG | Wir verlieren nicht die Wahrnehmungsfähigkeit, nur glauben wir nicht daran, oder besser gesagt, wir sind selektiv, in dem was wir bewusst wahrnehmen. Eine Frau erzählt mir zum Beispiel, sie könne die Elementarwesen nicht wahrnehmen. Während sie das sagt, juckt es an ihrer Nase, sie rubbelt und erzählt weiter, sie kratzt sich schnell am Ohr, zappelt regelrecht herum. Erwartet sie, dass ihr ein dreidimensionaler Gartenzwerg mit Schippe und Laterne erscheint? Währenddessen lacht sich der Kitzelwicht schief. 

EK | Elementarwesen wirken Ihrer Ansicht nach ganz konkret in unserem Alltag. Können Sie das beschreiben?

DG | Ich verstehe das so: Lebendiges ist überall. Das Lebendig-Wesenhafte in Dingen, in den Elementen, um Tiere und Pflanzen könnte man als eine Art Helfer ansehen. Alles hat eine Aufgabe. Sobald ein Verständnis für diese Aufgaben vorhanden ist, wird es auch leichter, mit regem Interesse zu schauen, was wirklich geschieht.

Zum Beispiel: In einer Ecke im Kindergarten oder zu Hause sammelt sich immer mehr Staub als in allen anderen. Wir ärgern uns über die Staubflusen und schieben das auf die unordentlichen Menschen oder einen bestimmten Luftzug in den Räumen. Aber in den Ferien – niemand ist im Haus, die Türen und Fenster sind geschlossen – sammelt sich in dieser Ecke wieder Staub. Wenn ich aber kurz innehalte und frage: Was will mir das sagen, dann bemerke ich recht schnell: diese Ecke braucht Aufmerksamkeit, will liebevoll gestaltet sein, Streicheleinheiten sozusagen. Meist löst sich dann das Staubproblem ganz schnell. 

EK | Was müssten Kindergärten und Schulen tun, damit der Kontakt zu den Naturgeistern nicht abreißt?

DG | Der Kontakt reißt nicht ab. Wir brauchen nur unser Bewusstsein dahin zu lenken und bereit sein, uns über­­raschen zu lassen. Es hilft schon, wenn wir es für möglich halten, dass etwas nicht visuell sein muss. Wir haben mehr als fünf Sinne. Hilfreich ist auch, wenn man nicht – zack! – direkt etwas wahrnimmt und einen Begriff oder eine Vorstellung dranheftet, sondern die Seele öffnet für die Möglichkeit, dass etwas stattfinden kann.

Man schaut – bildhaft gesprochen – mehr aus dem Augenwinkel und gibt dadurch diesem Unsichtbaren mehr Platz und Raum – wie eine Katze, die sich sorgfältig putzt und anscheinend keinerlei Notiz von dem leckeren Fisch auf der Küchentheke nimmt.

Im Umgang mit den Elementarwesen braucht man vor allem viel Humor und Liebe. Ich sage dann immer: »Ich habe zu tun, aber wenn ihr wollt, dann bin ich bereit.«