Die Burn-Out-Erziehung

Annejet Rümke

Ob es sich nun um Fußball oder Musizieren, Tanz oder Geographie handelt – immer weniger geht es um die Freude, die man an diesen Tätigkeiten erlebt, aber immer mehr und in immer jüngerem Alter vor allem um die Leistungen, die man zu erbringen hat. Diese werden ständig durch verschiedenste Tests und Prüfungen gemessen. Wer nicht der Norm entspricht, fällt rasch aus der Gruppe heraus oder wird zu einer ständigen Quelle von Sorgen für Eltern und Lehrer. Viele Kinder erfahren auf diese Weise ununterbrochen, dass etwas an ihnen nicht gut ist. Grübeln, Selbstzweifel und negative Gedanken führen zu körperlichen Stressreaktionen.

Es besteht eine beunruhigende Tendenz, wonach Symptome, die mit Erschöpfung und Stress zusammenhängen, in immer jüngerem Alter auftreten. Im Hinblick darauf, dass Kinder sich in jeglicher Hinsicht noch in der Entwicklung befinden – Gehirnentwicklung, Immunsystem, Gewohnheitsbildung und Seeleneigenschaften –, ist es umso wichtiger, eine optimale Umgebung für sie herzustellen, in der sich die biologischen Rhythmen ausbilden können, die Lebenskräfte, die den Körper aufbauen und die Seele in einem Gefühl der Sicherheit tragen und entfalten helfen.

Burnout hat eine lange Vorlaufzeit. Deshalb ist es naheliegend zu untersuchen, inwieweit die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Familiensituationen der letzten 30 Jahre einen Einfluss auf die Zunahme der Zahl von Kindern mit problematischem Verhalten wie zum Beispiel Ängsten, Schlafproblemen, Hyperaktivität, destruktivem Verhalten und Lernschwierigkeiten haben. Die Art und Weise, wie wir in unserer Kultur mit unseren Kindern umgehen, könnte in einem Zusammenhang mit dem immer häufigeren und früheren Auftreten von Stresssymptomen bei Erwachsenen stehen.

Zeit zum Träumen und die Kunst der Langeweile

Kinder werden heute häufiger von Erwachsenen betreut und haben weniger Freiraum für sich selbst als vor 30 Jahren. Sie werden durch allerlei organisierte Aktivitäten beschäftigt, wie durch Sportunterricht und Vereine sowie durch Fernsehen und Computer.

Bereits im Kindergarten fällt auf, wie sehr Kinder beschäftigt werden müssen. Sie sind lebhafter und können sich weniger konzentrieren, verfügen über weniger Phantasie und Initiative zum Spielen als die Generationen vor ihnen. Die Kunst, sich gesund zu langweilen, wird verlernt, so wie es ihre Eltern verlernen, Langeweile bei Kindern zu ertragen.

Sie denken sofort, dass sie etwas falsch gemacht haben. »Sich langweilen« bedeutet aber: einige Augenblicke lang nicht zu wissen, was man mit seiner Zeit anfangen will, und daraufhin aus sich selbst heraus, aus der eigenen Phantasie und den eigenen kreativen Quellen eine Beschäftigung zu finden. Dadurch lernen wir, unsere eigenen inneren Quellen der Aktivität anzusprechen, wir aktivieren die Phantasie und den Willen, selbst etwas zu unternehmen. Nicht ohne Grund war Langeweile früher etwas, was vor allem im Kindes­alter auftrat. Junge Erwachsene hatten bereits gelernt, sich sinnvoll zu beschäftigen.

Heute brauchen wir uns nie mehr zu langweilen, sogar auf dem Rücksitz des Autos können Kinder DVDs anschauen, und sobald wir einige Augenblicke lang nicht wissen, was wir tun wollen, was wir mit der Stille oder mit uns selbst anfangen sollen, schalten wir Musik oder den Fernseher an, chatten eine Runde im Internet oder spielen ein Spiel mit unserem Handy. Die Zeit, in der wir träumen und uns in uns selbst versenken können, wird immer knapper.

Doch der Preis, den wir für all diese passive Unterhaltung bezahlen, ist ein überreiztes Nervensystem und das Risiko, früher und immer massiver Erschöpfungs- und Stressbeschwerden zu bekommen.

Kinder in sich ändernden Familienstrukturen

War das Elternhaus früher ein Ort der Ruhe, an den man sich zurückziehen konnte oder wo man inmitten anderer Kinder im Freien tun konnte, was man wollte, so haben heute die meisten Kinder zwei voll arbeitende Eltern. Das bedeutet, dass sie sich bereits früh daran gewöhnen müssen, sich außerhalb der Familie zu behaupten. Sie müssen sich viel früher als die Generationen vor ihnen an Regeln, Gewohnheiten und wechselnde Umgebungen der unterschiedlichen Menschen, die sie betreuen, anpassen lernen.

Immer mehr Kinder leben nach der Trennung ihrer Eltern in Patchworkfamilien. Dies erzeugt sowohl für die betroffenen Eltern wie auch für die Kinder zusätzlichen Stress. Sie müssen umziehen, häufig in ein anderes Viertel oder eine andere Stadt, und sie müssen sich in zwei verschiedenen Umgebungen behaupten und dort Freunde finden. Sie wissen nicht mehr, wo ihr richtiges Zuhause ist.

Will ein Kind etwas erreichen oder etwas nicht tun, kann es sich an den anderen Elternteil wenden oder die beiden gegeneinander ausspielen. Konflikte und Auseinandersetzungen über Geld und Umgangsregelungen bei einer Trennung belasten die Kinder. Gerade bei schwierigen, mit Kämpfen verbundenen Scheidungen, wo jeder Elternteil den anderen schlechtmacht, geraten Kinder in einen unsicheren Zwischenbereich. Bei dem einen Elternteil lernen sie, den Mund zu halten und nichts darüber zu erzählen, was in ihrer anderen Familie passiert. Sie müssen früh emotional auf eigenen Beinen stehen. Dadurch kommt es häufig bereits in jungen Jahren zu einer »Fragmentierung«, die tief in das Lebensgefühl eingreift. Obwohl viele Kinder oberflächlich betrachtet den Eindruck machen, als könnten sie sich hervorragend anpassen, kostet es sie viel Lebensenergie, die dann nicht für andere Entwicklungsaufgaben wie Spielen und Lernen eingesetzt werden kann. Dasselbe gilt für viele Kinder, die in zwei gegensätzlichen Kulturen aufwachsen und stets unter dem Druck stehen, sich beiden anzupassen.

Gefühle der Sicherheit, Zufriedenheit und dass alles »in Ordnung« ist, sind eine wesentliche Grundbedingung für das Gedeihen von Kindern. Sie fördern den kohärenten Herzschlag und die körperliche Entspannung, die die Kinder als Gegengewicht zu unserer übermäßig gestressten Gesellschaft brauchen.

Die Möglichkeit, sich auf natürliche Weise durch Spiel und Bewegung abzureagieren, ist vor allem in den Städten immer weniger vorhanden. Weil die Eltern Angst haben, ihre Kinder draußen spielen zu lassen, setzen sie sie lieber vor den Fernseher oder Computer.

Gestresste Kinder – überforderte Eltern

Frauen, die in der Schwangerschaft unter Druck stehen und angespannt sind, haben ein höheres Risiko, dass ihr Baby oder Kleinkind viel weint und schlecht schlafen wird. Dennoch sind unter allen Kultureinflüssen gestresste Eltern und der Fernseher nicht die einzigen Gründe, warum Kinder extrem lebhaft sind, unkonzentriert und nicht aus dem Bett kommen. Manche Kinder, wie zum Beispiel solche mit einem Aufmerksamkeitsdefizit oder mit Hyperaktivität, bringen eine Veranlagung mit, aufgrund derer sie lebhafter sind und größere Schwierigkeiten damit haben, sich angemessen zu verhalten.

Andere Kinder haben seit ihrer Geburt ein empfindliches Stresssystem. Ein Schreikind kann seinen Eltern über Jahre hinweg Nacht für Nacht den Schlaf rauben. Auch Kinder, die unter Ängsten leiden, Kinder mit einer autistischen Veranlagung und Kinder mit einer zu offenen und sensiblen Konstitution sind rasch überdreht. Sie können durch Faktoren, die andere Kinder überhaupt nicht beeinträchtigen, völlig aus dem Häuschen geraten oder plötzlich aus unerfindlichen Gründen wütend werden. Die Eltern solcher Kinder haben alle Hände voll zu tun, ihren Sohn oder ihre Tochter zu begleiten und zu beschützen und der jeweiligen Umgebung ihre »Gebrauchsanweisung « zu vermitteln, damit ihr Kind nicht ständig zurückgewiesen wird. Sie führen Gespräche mit den Lehrern, versuchen auf dem Weg über eine andere Mutter ihren Sprössling bei anderen Kindern spielen zu lassen oder die heiß begehrte Einladung für einen Kindergeburtstag zu ergattern. Doch meistens können sie trotz aller Anstrengungen nicht verhindern, dass ihr Kind gelegentlich aus dem Rahmen fällt. Plötzlich geht Jan, der gerade noch so brav im Sandkasten spielte, auf ein anderes Kind los und beginnt mit der Schaufel auf dessen Kopf herumzuhämmern. Eine Stunde nach Beginn des Kindergeburtstags muss der Vater Maria abholen, weil sie nach dem gemeinsamen Anschauen einer spannenden DVD hemmungslos weinen muss. Immer wieder müssen Raschids Eltern in der Schule erscheinen, weil er sich rüpelhaft benimmt und nicht zuhört. Kevins Nachbarn erstatten wegen Kindesmisshandlung Anzeige beim Jugendamt, weil sie den Jungen Abend für Abend schreien hören. Bei derartigen Verhaltensweisen ist der erste Gedanke bei Eltern, Nachbarn, Freunden und den Eltern anderer Kinder, dass das Problem mit dem Kind an einer falschen Erziehung liegt.

Ob laut ausgesprochen oder hinter vorgehaltener Hand – die Eltern solcher Kinder spüren immer wieder aufs Neue den Vorwurf und das unausgesprochene Urteil, dass doch alles ihre eigene Schuld sei. Sie hätten eben strenger oder gerade im Gegenteil einfühlsamer sein müssen, sie hätten ihrem Kind mehr Schutz bieten müssen, ihr Kind einfach einmal selbst klarkommen lassen müssen, sie hätten …

Alles in allem bedeutet das für die betroffenen Eltern große Spannung und Stress. Ich habe etliche Eltern von solchen Kindern in ein Burnout schlittern sehen, und zwar weniger, weil ihr Beruf besonders viel Stress mit sich brachte, sondern vor allem, weil sie so wenig Ablenkung außerhalb der Familie hatten und von den zunehmenden Problemen mit ihrem Kind völlig in Anspruch genommen wurden.

Wie kann ich ein Übermaß an Stress vermeiden?

Für einen gesunden Umgang mit Stress ist es wichtig, dass die Kinder nicht andauernd beschäftigt oder unterhalten werden. Denn die Lebenskräfte gedeihen allein durch Ruhe und Rhythmus. Kinder von Eltern, die immer gestresst sind, Kinder, die selber gestresst werden, indem sie von hier nach dort, von der Schule zum Sport, zum Musikunterricht und dann noch zu Freunden oder zur Oma müssen, können nicht zur Ruhe kommen. Wir müssen unsere Kinder nicht vorwärtstreiben, sie auf Leistung trimmen. Sie müssen nicht die besten sein im Chor, beim Geigen oder beim Fußball, sondern dürfen und sollen einfach Freude und Spaß daran haben. Sie müssen auch nicht immer lernen, wach zu sein, wahrzunehmen, zu reflektieren oder zu verstehen, warum sie dies oder das tun. Für das seelische Gedeihen und die inneren Lebensquellen ist das Träumen, das sich Langweilen weitaus notwendiger, als die fortwährende aktive Anspannung. Lassen wir unsere Kinder in Ruhe, in ihrer eigenen Welt, damit ihre Kreativität und Phantasiekräfte wieder wachsen können.

Im Familienleben ist es eine gesunde Gewohnheit, nicht ständig mehreres gleichzeitig zu tun. Die Mahlzeiten sollten ohne Telefongespräche, Fernsehen oder Zeitung stattfinden. Ein wirklich verpflichtungs- und arbeitsfreier Tag tut allen gut. Man lebt mehr im Hier und Jetzt, hat Raum für spontane Pläne oder einfach Ruhe. Jeder Mensch hat seine eigenen, individuellen Warnsignale, wenn er zu stark unter Stress gerät. Wir Erwachsenen müssen lernen, unsere und die Grenzen der Kinder zu achten und selbst ein Leben zu führen, das der Stille und dem Müßigang im besten Sinne Platz einräumt. Denn Stille und Einkehr gehören zum aktiven Leben, wie das Ausatmen zum Einatmen, der Schlaf zum Wachen.

Zur Autorin: Annejet Rümke ist Ärztin in Amsterdam. Sie arbeitete in der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie und ist ausgebildete Familien- und Paartherapeutin und Voice Dialogue Therapeutin.

Buchtipp: Burnout-Sprechstunde. Frühsymptome erkennen, Wirksam vorbeugen, Neu leben lernen, Urachhaus, Stuttgart 2012.