Lerne und arbeite. Das Berufskolleg als neue Oberstufenform

Inga Enderle

»Arbeit« ist das Bildungselement! Die Waldorf-Berufskollegien greifen mit diesem Ansatz einen zentralen Impuls Rudolf Steiners bei der Gründung der ersten Waldorfschule 1919 auf, der ihr den Leitspruch gab: »Ich will lernen. Ich will arbeiten. Ich will arbeitend lernen. Ich will lernend arbeiten.« Steiner hatte Grund zur Sorge, dass sich seine Waldorfschule zu einer »Höheren Lehranstalt« entwickelt, zu einer »Bourgeoisie-Schule«, in die Arbeiterkinder nicht hineinpassen. Mittlerweile bieten sieben Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen ein Berufskolleg in ihrer Oberstufe an: vier mit der Fachrichtung »Sozial- und Gesundheitswesen«, zwei mit »Gestaltung« und eines mit »Naturwissenschaften/Technik«. Auch in anderen Bundesländern und im Ausland wächst das Interesse an diesem berufsbezogenen Bildungsweg.

Die Erfahrung ernsthafter betrieblicher Arbeit habe sich als wertvolle Entwicklungschance und als ein die Persönlichkeit prägendes Kernelement des Berufskollegs gezeigt, berichtet Andrea Gabriel von der Waldorfschule Schloss Hamborn. Es setze allerdings eine intensive Praxisbetreuung voraus. Und Uta Lublinsky von der Waldorfschule Sankt Augustin ergänzt, dass die Projekte möglichst im Zusammenhang mit konkreten Aufträgen durchgeführt werden müssten, damit für alle Beteiligten erlebbar werde, dass die Arbeiten tatsächlich notwendig und brauchbar sind. Wichtig sei die Reflexion zum Beispiel in Form von Praktikumsberichten.

Die Kooperation zwischen Schule und Betrieb muss sich noch intensivieren. Christina Krallmann-Fleer von der Waldorfschule Bielefeld stellt nach dreijähriger Erfahrung fest: »Als Lehrerkollegium muss man den Unternehmen Vertrauen entgegenbringen und die Experten dort lehren lassen. Das erfordert ein anderes Denken.«

Dort wird die Praxisphase mit zwei Tagen Unterricht pro Woche kombiniert. »Dadurch entstehen mehr Anknüpfungspunkte inhaltlicher Art, und die Nähe zu den Schülern ist gewährleistet.« Andere Schulen favorisieren das sogenannte »Blockmodell«, bei dem im ersten Jahr im Betrieb gear­beitet wird, lediglich unterbrochen von vier Unterrichts-Epochen, während im zweiten Jahr ausschließlich Unterricht statt­findet.

»Noch sprechen das Berufskolleg und die Waldorfschule verschiedene Sprachen«, so Wilfried Gabriel von der Waldorfschule Schloss Hamborn. Das waldorfpädagogische Ideal der Allgemeinbildung orientiere sich stark am Abschluss (Vorratslernen), während die berufliche Qualifizierung eher handlungsbasiert und prozessorientiert ausgelegt sei. Horst Philipp Bauer von der Software AG-Stiftung hält deshalb eine berufsbezogene Fachausbildung der Kolleg-Lehrer für zwingend notwendig, um weg von gymnasialen Schwerpunkten hin zu beruflichen Inhalten zu kommen.

Das Waldorfspezifische der Berufskollegien zeige sich vor allem in der individuellen Persönlichkeitsförderung, dem Vorrang der Entwicklungsförderung vor rein kognitiven Lernzielen und der Betonung ganzheitlicher Bildung, etwa durch die praktischen und künstlerischen Aspekte, resümiert Wilfried Gabriel die dreijährige Kolleg-Erfahrung. »Die Kollegien berücksichtigen in den Berufskollegs wieder stärker die typischen Waldorf-Inhalte, wie Eurythmie-Unterricht, das Verfassen und Präsentieren von Projekt­arbeiten, die Wahl eines Kunstfaches im letzten Kolleg-Jahr und das Klassenspiel auf freiwilliger Basis«, bestätigt Astrid Gottschalk von der Waldorfschule Haan-Gruiten.

Das Konzept der Emil Molt Akademie in Berlin folgt dem Motto »Wirtschaft und Soziales verbinden«. Es bietet verschiedene, staatlich anerkannte Ausbildungen in kaufmännischen Berufen mit den Schwerpunkten »Informationsverarbeitung«, »Fremdsprachen« oder »Europasekretär« sowie die Ausbildung zum »Sozialassistenten« und führt über den Mittleren Schulabschluss zur Allgemeinen Fachhochschulreife. »Das eröffnet denjenigen, die im staatlichen Schulwesen Schwierigkeiten hatten, eine neue Perspektive«, so Hans-Georg Hutzel.

Dieter Kötter berichtete von der Interkulturellen Bildungsinitiative Stuttgart (IBIS), die in Kooperation mit der Mahle-Stiftung ein Berufskolleg anstrebt, das insbesondere Migranten höhere Bildungschancen eröffnen will. Es ist geplant, dass die Firma Mahle ein Ausbildungsprogramm zum Industriemechaniker und die Filder-Klinik eines in der Gesundheitspflege anbieten.

Nach Thomas Stöckli vom Institut für Praxisforschung in Solothurn (Schweiz) müsse jede Waldorfschule im Sinne des Dreigliederungsgedankens ein neues Verständnis von Arbeit entwickeln. Der »Freiheit« im Geistesleben und der »Gleichheit« im Rechtsleben korrespondiert die »Brüderlichkeit« im Wirtschaftsleben. »Brüderlichkeit« könnte man zeitgemäß übersetzen als ein »Tun für Andere«, und ein qualifiziertes Tun für Andere ist »Arbeit«.

Das Interesse der staatlichen Vertreter aus dem Schulministerium und der Schulverwaltung ist groß. Sie sehen in der intensiven Praxisbetreuung und der umfassenden Persönlichkeitsbildung ein Alleinstellungsmerkmal des Berufskollegs und wünschen sich einen intensiven Austausch mit den staatlichen Berufskollegs, so die anwesenden Vertreter des Ministeriums für Schule und Weiterbildung und des Regierungspräsidiums.

»Wenn sich bei der Hundertjahr-Feier der Gründung der Waldorfschule im Jahr 2019 das Waldorf-Berufskolleg neben die traditionelle Waldorfschul-Oberstufe stellt, ist dies zugleich auch ein Ausdruck für die Erneuerungskraft dieser Pädagogik« – mit diesen Worten schloss Peter Schneider die Tagung.

Das Projekt startete im Jahr 2009 und wurde von Peter Schneider (Universität Paderborn, Alanus Hochschule), Dietmar Müller (Arbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen) und Karl-Klaus Pullig (Universität Paderborn) wissenschaftlich begleitet.

Literatur: Peter Schneider / Inga Enderle (Hrsg.): Das Waldorf-Berufskolleg. Entwicklung und Ergebnisse einer neuen Oberstufengestaltung der Waldorfschule, Frankfurt/M. 2012 (zur Rezension hier)