Bilder, die die Seele nähren. Warum Waldorflehrer Gleichnisse erzählen

Bernd Kettel

Wenn das Kind die Schulreife erlangt, vollzieht sich eine Wandlung. Kräfte, die bisher mit der Bildung des Körpers beschäftigt waren, werden frei. Äußeres Anzeichen dafür ist der Zahnwechsel. Was von nun ab im Organismus geschieht, ist im wesentlichen Wachstum und Regeneration, nicht mehr Neubildung. Die überschüssigen »Bildekräfte« können für anderes verwendet werden. Unter anderem dienen sie der Bildung von Vorstellungen. Die Aufgabe des Waldorflehrers besteht nun darin, diese Kräfte in eine geregelte Tätigkeit zu bringen. Die Bildekräfte sind Teil eines größeren Kräftezusammenhanges, den Rudolf Steiner als »Ätherleib« bezeichnet. Er ist die wirkende Kraft in allen Lebensfunktionen unseres Organismus. Stellen wir uns ein großes Wasserbecken mit einigen Ausbuchtungen vor. Wenn wir das Wasser in den Buchten manipulieren und dadurch den ganzen Wasservorrat rhythmisch in Bewegung halten, dann teilt sich die Veränderung in den kleinen Buchten dem gesamten Wasserbecken mit. Ähnlich verhält es sich mit dem Ätherleib. Das, was mit den Vorstellungskräften geschieht, teilt sich dem gesamten Ätherleib mit. Und da dieser für die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen zuständig ist, wirkt der Unterricht bis in die Lebensprozesse hinein.

Wie Bilder entstehen

Nehmen wir zum Beispiel das Schreiben. Alle Buchstaben werden aus Bildern entwickelt, die dem Wesen des betreffenden Lautes nahe kommen. So kann man zum Beispiel für das »W«, der ein Blaselaut ist und mit Hilfe der Zähne und der Unterlippe geformt wird, das Bild des Windes benutzen, der durch die Gräser einer Wiese oder die Ähren eines Getreidefeldes streicht. Die Form des Buchstabens »W« kann so aus der wogenden Bewegung herausgeholt werden. Das »S« dagegen lässt sich leicht an der gewundenen Bewegung der Schlange erleben, die zudem auch die zischende Qualität des Lautes vermittelt. Den summenden, tastenden, vermittelnden Charakter des »M« findet man leicht in den geschwungenen Linien der Lippen wieder.

Die Bilder müssen stimmig sein. Man sollte nicht das schwerfällige »B« aus der aktiven, summenden Biene oder das harte aufrechte »K« aus dem Bild der Kartoffel entwickeln. Besonders interessant ist das »C«, weil es in verschiedenen Buchstabenumgebungen unterschiedlich klingt und sich einer Bildhaftigkeit zu entziehen scheint. Da hilft uns das Chamäleon weiter, weil dieses Tier sich in seiner Erscheinung der Umgebung anpasst. Man kann es auf einem Ast sitzen und den langen Schwanz »C«-förmig herunterhängen lassen.

Epochen in der Unter- und Mittelstufe

Beschäftigt man sich damit, wie Steiner die Epochen in der Klassenlehrerzeit angeordnet hat, so kann man darin einen weisheitsvollen Aufbau erkennen. Erdkunde, Wetterkunde und Himmelskunde beispielsweise sind Epochen, die innerlich zusammenhängen. Im Lauf der Jahre lassen sich vielfältige Beziehungen von ihnen zu anderen Epochen wie zum Beispiel Tier-, Pflanzen- und Menschenkunde, aber auch zur Geschichte herstellen. Dadurch entsteht das Bild eines umfassenden Weltgefüges, das von einem ordnenden Willen durchdrungen und getragen wird.

Greifen wir die Pflanzenkunde heraus. Das Pflanzenwesen ist zunächst eingebettet in die Umgebung. Es wurzelt im Erdreich, aus dem es Wasser bezieht, seine Stängel und Blätter entfalten sich im Luftbereich, wo die Photosynthese stattfindet und die Blüte sich zum Licht hin orientiert.

Man kann die Pflanze als einen umgekehrten Menschen erleben. Während der Kopf des Menschen zur Sonne, zum Himmel gerichtet ist und seine Fortpflanzungsorgane zur Erde, ist es bei der Pflanze umgekehrt: In der dunklen Abgeschiedenheit der Erde wächst die Wurzel. Sie ist der »findige« Teil der Pflanze, denn sie sucht den Weg zum Wasser. Diese Findigkeit wäre am ehesten vergleichbar mit der Kopf-, Nerven- und Sinnestätigkeit des Menschen, der in der dunklen Abgeschiedenheit seines Schädels »Findigkeit« entwickelt. In der Blüte der Pflanze dagegen, die sich zum Licht wendet, wachsen die Samen und Früchte heran, ähnlich wie im menschlichen Leib, wo sich die Leibesfrucht entwickelt, um dann als Kind geboren zu werden. Man kann den Kindern das durchaus schildern, ohne den Befruchtungsvorgang zu betonen, was Steiner für dieses Lebens­alter auch ablehnt (»Erziehungskunst Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge«, 9. Seminarbesprechung, Stuttgart, 30. August 1919).

Zwischen Blüte und Wurzel, im Blattbereich, findet die Atmung und die hauptsächliche Ernährung der Pflanze statt. In diesem Bereich finden wir beim Menschen die Lunge. Die menschliche Lunge hat Ähnlichkeit mit einem umgekehrten Bäumchen. Es besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen der Atmung der Pflanzen und der Atmung des Menschen. Die Pflanze setzt bei ihrer Atmung Sauerstoff frei, den wir Menschen zum Leben brauchen. Umgekehrt setzt der Mensch beim Ausatmen Kohlenstoff frei, der für uns giftig ist, den die Pflanze jedoch zum Aufbau ihres Körpers verwendet. Dies ist für die Kinder oftmals ein überraschendes Erlebnis, und sie ahnen, dass das Bild von den »Blütenköpfchen« eigentlich nicht stimmt.

In einem weiteren Schritt können wir die Pflanze in einen größeren Zusammenhang stellen. Wir erkennen Verwandtschaften zwischen verschiedenen Gewächsen und gelangen zu einer umfassenderen Sicht des Pflanzenwesens. Wir stellen die Rosen- und Liliengewächse nebeneinander und gehen auf die Suche, welche der uns bekannten Pflanzen mit ihnen verwandt sind. So entsteht das Bild einer großen Familie, deren Mitglieder an ihren Ähnlichkeiten erkennbar sind. Die großen und kleinen Kreisläufe in der Natur zeigen uns, dass Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen in einem tiefen, unauflösbaren Zusammenhang stehen. So entsteht allmählich das Bild einer irdischen Ordnung, das seine Krönung darin findet, dass wir den Blick auf den Sternenhimmel richten, an dem die Planeten ihre Bahnen ziehen. Da wir eben von Lilien- und Rosengewächsen gesprochen haben, betrachten wir Merkur und Venus.

Aus geozentrischer Sicht sieht es so aus, als würden die Planeten bestimmte Bahnen ziehen. Und wenn es für uns so aussieht, ist es natürlich für die Pflanzen auch so. Man beobachte nur einmal einen Löwenzahn, der sich während des Tages mit seiner Blüte nach dem Lauf der Sonne richtet. Obwohl wir wissen, dass sich die Sonne nicht wirklich um die Erde dreht, stellt es sich für unser Erleben doch so dar.

Könnte man nun die Bahnen der Planeten Merkur und Venus im Lauf von Wochen, Monaten und Jahren sichtbar machen, etwa so wie die Leuchtspuren von Wunderkerzen, die man durch die Luft sausen lässt, dann ergäbe sich ein einzigartiges Bild. Die Spur des Merkur würde einen Sechsstern bilden, die von Venus dagegen einen Fünfstern. Man kann bei den Sternwarten Karten von Planetenbahnen aus geozentrischer Sicht erhalten, die das bestätigen.

Und jetzt richten wir den Blick wieder auf die Rosen- und Liliengewächse und wir sehen die geheimnisvolle Ähnlichkeit zwischen den Blütenformen und den Sternenbahnen. Spätestens jetzt fallen den Kindern weitere vergleichbare Phänomene ein: Kristallformen, Bienenwaben oder Seesterne zum Beispiel. Es ist gar nicht notwendig, diese Beobachtungen weiter zu vertiefen. Es genügt, die Empfindung entstehen zu lassen, dass im Kosmos große Gesetze wirksam sind und ein erkennbarer Zusammenhang zwischen seinen Teilen besteht.

Rhythmus

Ein tieferes Verständnis dieser Vorgänge ergibt sich, wenn man die Zeit mit ihren Rhythmen einbezieht. Denn die Tätigkeit des Ätherleibes verläuft, wie alles Lebendige, rhythmisch in der Zeit.

Ein Beispiel: Wenn das Kind mittags oder nachmittags aus der Schule kommt, beschäftigt es sich auch mit anderen Dingen. Die Ereignisse der Schule verklingen und werden vergessen. Erst am nächsten Schultag werden die Erlebnisse des Vortages wieder ins Bewusstsein gehoben und weiter bearbeitet. Dazwischen liegen die Nacht und der Schlaf, die Abwesenheit des Selbstbewusstseins. Wenn wir schlafen, wissen wir nichts von uns. Während des Schlafs wirken die eingepflanzten Bilder aber weiter. Sie führen ein Eigenleben und beeinflussen unsere Entwicklung, besonders die Entwicklung der Kinder. Wir alle haben schon einmal erlebt, dass wir abends mit einem Problem oder einer ungelösten Frage zu Bett gegangen und am Morgen mit dem Gefühl aufgewacht sind, der Lösung näher gekommen zu sein oder gar zu wissen, was jetzt zu tun sei. Nicht von ungefähr ist überall der Brauch verbreitet, erst einmal eine Nacht über eine Sache zu schlafen, bevor man eine wichtige Entscheidung trifft. Die Waldorfpädagogik arbeitet mit den Wirkungen des Schlafes. Wenn am folgenden Tag ein Bild wieder aufgegriffen wird, so ist das wie bei einem Pflänzchen, das man ins Erdreich setzt, dessen Wachstum man Tag für Tag durch liebevolle Pflege begleitet und hegt. Auf diese Weise beschäftigen wir uns drei bis vier Wochen mit einem Fach, bringen es in dieser Zeit zu einem gewissen Abschluss und lassen es dann für längere Zeit ruhen. Auch hier wird mit dem Vergessen gearbeitet, damit das Gelernte in den unbewussten Bereichen der Seele weiterwirken kann.

Die heilsamen Wirkungen des Schlafs und des Vergessens sind die Wirkungen des Ätherleibs. Von ihnen spricht Steiner, wenn er in seinem grundlegenden Lehrerkurs, der »Allgemeinen Menschenkunde«, das Erwachen am Morgen wie folgt charakterisiert: »Wenn das Ich des Morgens in den Wachzustand übergeht, so dringt es in den Leib ein, aber nicht in die physischen Vorgänge des Leibes, sondern in die Bilderwelt, die bis in sein tiefstes Inneres der Leib von den äußeren Vorgängen erzeugt. Dadurch wird dem Ich das denkende Erkennen übermittelt« (6. Vortrag, 27. August 1919).

Ein Bild arbeitet weiter: Die Geschichte vom Krummbein

Steiner legte großen Wert darauf, dass den Kindern immer wieder »sinnige Geschichten« erzählt würden. Dabei handelt es sich um kleine Mythen, wie sie mir meine Mutter erzählt hat, als ich etwa sieben Jahre alt war. Sie antwortete damit auf meine Frage, woher ich gekommen sei. Die Geschichte hat mich damals tief beeindruckt. Sie ist eigentlich die einzige erfundene Geschichte, an die ich mich noch bis heute sehr gut erinnern kann. »Es war einmal eine Frau, die ging abends vom Felde heim. Unterwegs hörte sie in der Dunkelheit ein klägliches Schreien, wie von einem kleinen Kind. Sie ging dem Geschrei nach und fand nach einer Weile ein kleines Wesen in einer Schlammpfütze. Das war ein kleiner Engel, der war vom Himmel gefallen, und dabei waren ihm die Flügel abgebrochen. Die Frau hob den kleinen Engel auf, tröstete ihn und nahm ihn als ihr Kind mit nach Hause. Dort zog sie ihn groß und lehrte ihn alles, was Menschen wissen müssen. Der kleine Engel hatte sich aber bei dem großen Sturz am Bein verletzt und hinkte ein wenig. Deshalb nannte sie ihn Krummbein.«

Zugegeben, eine eigenartige Antwort auf die Frage eines Kindes. Aber als ich älter wurde, kam mir diese Geschichte im Lauf meines Lebens immer wieder in den Sinn. Sie wuchs in dem Maße mit, wie ich Erfahrungen im Leben sammelte. Schließlich erfuhr das Bild des Krummbein in meiner Vorstellung eine ganz bedeutende Ergänzung.

»Als Krummbein älter wurde, spürte er in seinem tiefsten Innern, dass er damals, bei seinem Sturz aus dem Himmel, etwas Wichtiges verloren hatte: sein Geheimnis, das er aus dem Himmel mitgebracht hatte. Er empfand eine tiefe Sehnsucht, sich aufzumachen, in die Welt hinauszuziehen und das Geheimnis wiederzufinden. Er musste alles zurücklassen und sich dem großen Abenteuer stellen. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen und was genau er suchen sollte, denn er hatte beim Sturz alles vergessen.«

Die Kinder, die uns anvertraut sind, sind alle diesem kleinen Engel vergleichbar. Jedes von ihnen hat auf seinem Weg vom Himmel auf die Erde etwas vergessen, wonach es sich in den tiefsten Tiefen seiner Seele sehnt. Manches hat sich vielleicht auch eine »Verstauchung« zugezogen. Entscheidend aber ist, dass jedes eine Kraft in sich trägt, die es über all die Hindernisse hinausträgt. Und diese Kraft kann durch eine solche Geschichte genährt werden.

Zum Autor: Bernd Kettel ist Klassenlehrer an der Freien Georgenschule Reutlingen

Link: Freie Georgenschule