Zweierlei Ich. Warum wir von der Welt getrennt und doch mit ihr eins sind

Andreas Neider

Beim Wahrnehmen erleben wir nicht nur die Dinge, sondern auch uns selbst, die wir den Dingen gegenüber­stehen. Uns selbst bezeichnen wir in Abgrenzung von der Welt als »Ich«. Aus unserem Ich entspringen die Vorstellungen und Begriffe, die wir zu den Dingen »hinzufügen«. Uns erscheint die objektive Wahrnehmung fertig und vollständig, und das Hinzugefügte erleben wir als etwas Subjektives. So macht uns das Denken die Welt zwar verständlich – wie diese aber außerhalb unseres subjektiven Bewusstseins tatsächlich beschaffen ist, scheinen wir nicht wissen zu können.

Der neurowissenschaftliche Befund

Die neurowissenschaftliche Forschung hat festgestellt, dass es innerhalb unseres Körpers – vor allem im Gehirn und im Nervensystem – keinen Ort, kein Zentrum gibt, das man als Äquivalent unseres Ich-Bewusstseins bezeichnen könnte. Nirgends ergeben sich Hinweise darauf, dass es so etwas wie eine Schaltzentrale gäbe, von der aus all unsere Bewusstseinsvorgänge gesteuert würden. Vielmehr verlaufen alle Vorgänge, die mit unseren Wahrnehmungen in Verbindung stehen, parallel und vollkommen dezentral. Auch unser Gedächtnis – die Erinnerung an eine von uns wahrgenommene Rose etwa – hat nicht einen bestimmten Ort im Gehirn, sondern die verschiedenen Aspekte der Rose, ihre Farbe, ihre Form und ihr Geruch werden an ganz unterschiedlichen Orten des Gehirns »gespeichert«. Ist also die Ich-Vorstellung, die wir aufgrund unserer Bewusstseinserfahrungen gebildet haben, nur eine Täuschung?

Die Grundlage des Ich-Bewusstseins

Die Begriffe, die wir durch unser Denken den Wahrnehmungen hinzufügen, fassen das Wahrgenommene nur in der Form abstrakter Gesetze zusammen. Nehmen wir als Beispiel wieder eine Rose. Was ist eine Rose? Sie entwickelt sich wie jede Pflanze vom Samen über den Spross, die Blätter, die Blüte und die Frucht. Sie entfaltet also ihr Wesen gesetzmäßig über einen gewissen Entwicklungszeitraum. Unser Begriff stellt jedoch nur etwas wie eine Abbreviatur dieses komplexen, sich in der Zeit entfaltenden Wesens dar. Würden wir ihr Wesen unmittelbar erfassen, müssten wir dazu in den Lebensprozess, das Werden der Rose eintauchen. Was würde dadurch geschehen? Wir würden dann zwar ihr lebendiges, gesetzmäßig sich entfaltendes Wesen erfassen, uns dabei aber gleichzeitig im Lebensprozess verlieren. Wir erlebten dann ihr Wesen, das, was die Rose zur Rose werden lässt, was sich in ihr entfaltet, nicht aber uns selbst.

Nun nehmen wir, um zu einer Lösung des Problems zu kommen, einmal Folgendes hypothetisch an: Unserem Denken, das uns ja erst das Selbsterleben ermöglicht, ginge ein Vorgang voran, den wir nicht bemerken, der also nicht in unser Bewusstsein fällt, durch den aber der Lebensprozess, der in der Rose lebt – wir können auch sagen, das Denken, das in der Rose lebt – herabgelähmt wird. Dieser lebendige Gedankenzusammenhang, der Lebenszusammenhang der Rose, würde dann also durch unser eigenes Denken wie getötet und erschiene eben deshalb in uns nur noch als der abstrakte Begriff »Rose«.

Rudolf Steiner, dessen Ich-Verständnis wir uns hier versuchen anzunähern, beschreibt diesen Zusammenhang so: »Es hängt also die Entwickelung des Selbstbewusstseins geradezu davon ab, dass der Seele die Möglichkeit gegeben ist, die Welt ohne den Teil der Wirklichkeit wahrzunehmen, welchen das selbstbewusste Ich auf einer gewissen Stufe, auf derjenigen, die vor seiner Erkenntnis liegt, auslöscht.«

Gemäß unserer Hypothese verdankten wir unser Ich-Bewusstsein also der Tatsache, dass die Art unseres Denkens den Zusammenhang, in dem wir mit der Welt eigentlich immer stehen, unterdrückt. Unser gewöhnliches Bewusstsein beruhte dann also auf einer Täuschung, nämlich der, dass wir von der Welt getrennt seien. In Wirklichkeit wären wir immer mit ihr verbunden, bemerkten dies aber aufgrund unserer Bewusstseinsverfassung nicht. Unser Ich-Bewusstsein erkauften wir uns gewissermaßen dadurch, dass wir unseren lebensmäßigen Zusammenhang mit der Welt aus unserem Bewusstsein ausschalten.

Die weitergehenden Forschungen Rudolf Steiners machen nun deutlich, dass es sich bei all dem tatsächlich nicht bloß um eine Hypothese handelt. In seinem Bologna-Vortrag (1911) stellt er diesen Zusammenhang wie folgt dar:

»Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das ›Ich‹ … gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm ›von außen‹ geben läßt; sondern wenn man das ›Ich‹ in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt.«

Das periphere Ich

Gibt es nun für unser normales Bewusstsein irgendwelche Anhaltspunkte, die uns auf ein solches, außerhalb unseres normalen Bewusstseins liegendes peripheres Ich – das »Ich im Transzendenten« – hinweisen können?

Wir können dazu eine einfache Beobachtungsübung machen: Öffnen wir beispielsweise das Fenster unseres Zimmers und lauschen wir einige Minuten konzentriert auf das, was wir da hören. Besinnen wir uns anschließend auf das Gehörte und fragen uns zunächst genau, was wir alles gehört haben. Beschreiben wir es innerlich genau und fragen uns dann, wo wir das alles gehört haben. Wir haben beispielsweise das Starten eines Motors gehört, dann das Anfahren und Wegfahren eines Fahrzeugs.

Wo war unser Bewusstsein, unser seelisches Erleben, unser Ich beim Hören? Wir stellen fest, dass wir uns draußen bei dem Gehörten befinden, während wir es hören. Wir hören das Gehörte nicht in unserem Kopf, sondern wir erleben es draußen bei den Dingen, wir bewegen uns in dem beschriebenen Beispiel mit dem Fahrzeug mit, nehmen wahr, wie es sich bewegt und wohin, indem wir diese Bewegung im Hören mitmachen. Unser Bewusstsein, unsere Aufmerksamkeit, dehnt sich in den Bereich unserer Wahrnehmungen hinein aus, sie ist nicht begrenzt auf die Grenzen unserer Leibeshüllen.

Diesen Tatbestand beschreibt der Phänomenologe und Mediziner Thomas Fuchs folgendermaßen: »Das seelische Erleben – unsere Empfindungen, Triebregungen, Gefühle, Stimmungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken – ist als solches nicht irgendwo im Raum unseres Körpers lokalisierbar, auch nicht im Gehirn. Es ist überhaupt nicht nur irgendetwas in uns. Seelisch sind wir bei den Dingen und Menschen, die wir wahrnehmen oder auf die wir zugehen. … Das Organ, das Medium und der Resonanzkörper dieser Teilnahme und Teilhabe aber ist der Leib. Durch ihn ist alles seelische Erleben zugleich ein konkret-räumliches. Der Leib vermittelt eine ursprünglich seelische Partizipation an der Welt.«

Genau davon spricht auch Steiner in seinem bereits zitierten Vortrag: »Wenn ich eine Farbe sehe, wenn ich einen Ton höre, so erlebe ich die Farbe, den Ton nicht als ein Ergebnis des Leibes, sondern ich bin als selbstbewusstes Ich mit der Farbe, mit dem Ton außerhalb des Leibes verbunden. Der Leib hat die Aufgabe, so zu wirken, dass man ihn mit einem Spiegel vergleichen kann.«

Fassen wir also zusammen: Das periphere Ich benötigt, um zu seinem Bewusstsein zu kommen, den physischen Leib, genauer die Nerven-Sinnes-Organisation und das Gehirn als eine Art Spiegel. Diese Organisation löscht dadurch aber zugleich den Zusammenhang aus, in dem das periphere Ich mit der Welt immer schon steht und lässt dadurch ein von den Dingen losgelöstes Ich – unser Alltags-Ich – entstehen.

Die Frage ist: Können wir unsere anfänglichen Erlebnisse des peripheren Ich verstärken und den Schein des Alltagsbewusstseins überwinden? Gibt es also eine Möglichkeit, den ursprünglichen lebendigen Zusammenhang des Ich mit der Welt und ihren wirkenden Gesetzen zu erkennen? Laut Steiner ja.

Der Weg dahin führt über Meditations- und Wahrnehmungsübungen, die er vor allem in seinem grundlegenden Schulungsbuch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« beschrieben hat.

Zum Autor: Andreas Neider leitet die Kulturagentur »Von Mensch zu Mensch«. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Medien. www.andreasneider.de

Literatur:

Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 2008; Ders.: Leib – Raum – Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000; Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie, GA 18 (1914), Dornach 1985; Rudolf Steiner: Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie, Vortrag vom 8. April 1911 vor dem Philosophenkongress in Bologna, zitiert nach: Das gespiegelte Ich, Dornach 2007