Ringparabel in Osnabrück

Ute Hallaschka

Vertiefen wir, was uns verbindet,
überwinden wir, was uns trennt,
bewahren wir, was uns unterscheidet«

Bernhard von Clairvaux

Das Besondere an der Drei-Religionen-Grundschule in der Stadt des Westfälischen Friedens ist der Stellenwert der Religion im Schulalltag. Sie wird nicht als Problem, sondern als Ressource gesehen, indem die Kinder ihre eigene religiöse Identität weiterentwickeln können und im täglichen Leben und Lernen eine Haltung der Anerkennung gegenüber den religiös fremden Mitschülerinnen und Mitschülern, Vätern, Müttern und Lehrpersonen annehmen. »Das geschieht«, so Claudia Sturm, »aufgrund der festen Überzeugung, dass die Gesellschaft auch in Zukunft nicht reli­gionslos sein wird und die jungen Menschen eine religionsplurale Gesellschaft später selbst gestalten müssen. Darauf muss Schule vorbereiten. Das bedeutet, dass die jungen Menschen auskunftsfähig sein müssen über den eigenen religiösen Standpunkt. Das impliziert aber auch den interreligiösen Dialog, der mit Respekt vor anderen weltanschaulichen Positionen geführt werden muss.« Dies geschieht in altersgemäßer Form und beginnt erst in der eigenen Religion mit Lehrpersonen, die dieser Religion angehören. Ist dieser eigene Standpunkt entwickelt, treten die Kinder im Begegnungslernen in Dialog mit Kindern anderer Religionen.

Jeder Mensch ist ein Bild Gottes

Die Gründung der Schule bezeugt die Fähigkeit, aus der Not eine Tugend zu machen. Die ehemalige Johannisschule, eine katholische Bekenntnisgrundschule in öffentlicher Trägerschaft, war eine konfessionsgebundene Einrichtung, der am Standort schlicht die getauften Kinder ausgingen. Statt sie zu schließen, wurde die Drei-Religionen-Grundschule aus der Idee begründet, dass »jeder Mensch ein Bild Gottes ist«. Diese Grundüberzeugung setzt den Menschen in seiner religiösen Identität in Freiheit.

Der Geist der Freiheit sorgt dafür, dass inzwischen Anmeldungen aus dem gesamten Stadtgebiet, auch aus konfessionslosen Elternhäusern erfolgen. Die Handlungsmaxime des respektvollen Umgangs miteinander, die Toleranz, wird nicht gepredigt, sondern als Fähigkeit erworben. Das interreligiöse Lernen findet nicht nur im Religionsunterricht statt, sondern ganz konkret in alltäglichen Situationen. Bis zum gemeinsamen Mittagessen in der Ganztagsschule. Dann muss es für die jüdischen Kinder koscher und für die muslimischen halal sein.

Oder die Süßigkeitenfrage. Hat ein Kind Geburtstag und möchte den anderen etwas mitbringen, dann gilt es religionssensibel zu sein und niemanden auszuschließen. So ist eine Liste entstanden, was für alle teilbar ist. Die Art Rücksicht, die früher in der Großfamilie lernbar war – Wie teile ich gerecht? – wird so wieder neu gelernt. Kinder, die in toleranter religiöser Praxis miteinander aufwachsen, erfahren und erwerben Verständnis füreinander als Bildung einer Seelenkraft, nicht als intellektuelle Vorschrift. Das hat durchaus heitere Züge, etwa, wenn ein Kind erwägt, zum Judentum überzutreten – denn die haben mehr Feiertage!

Das eigene Bekenntnis lässt andere hochachten

Zu Schuljahresbeginn wird ein sogenannter interreligiöser Kalender erstellt, denn an den wirklich hohen Feiertagen der jeweiligen Religion haben nicht nur die Kinder schulfrei, sondern auch Mitarbeiter und Lehrpersonen. Hier hört man förmlich die Verwaltungsbürokratie innerlich aufschreien, als wäre die Apokalypse in Sicht. Aber was ist so schlimm daran, wenn einige Kinder ein paar Tage nicht in der Schule sind? Dabei sind es tatsächlich gar nicht so viele Tage, wie ein Blick in den Kalender zeigt. Dieser wird erstellt von den Vertretern der Religionsgemeinden im Schulbeirat. Ihm gehören, neben Eltern und Lehrern, Mitglieder der christlichen Kirche, der islamischen und jüdischen Gemeinden an. Darüber hinaus stellen die Kinder ihre Religion und deren Gebräuche gegenseitig in Projekttagen dar. Das hat dazu geführt, dass die Eltern sich inzwischen schlechter informiert fühlen als ihre Kinder und sich ebenfalls verstärkten religiösen Dialog wünschen.

Hier zeigt sich, wie eine gute und richtige Idee sich selbst weiter entwirft. Nach wie vor ist es ja ein katholischer Schulträger, aber die ausdrückliche Grundlage des Christentums belastet niemanden. Im Gegenteil, es ist das ausdrückliche Bekenntnis der eigenen Haltung, das auch den anderen garantiert, dass ihre Religion frei gelebt werden kann. Das Ganze erinnert an Nathans Ringparabel. Religion aus Liebe gespeist – so einfach ist das plötzlich – kann gar nicht zu Hass und Missachtung führen. Wer das einmal grundlegend erfahren hat, ist immunisiert gegen Terror. Die Kinder tragen diese Lebenserfahrung mit sich, wenn sie die vierte Klasse der Drei-Religionen-Grundschule beendet haben und die Schulform wechseln. Man kann sich vorstellen, wie sich aus diesem gewachsenen Interesse geradezu eine Sehnsucht bildet. Vielleicht fehlt es einem katholischen Kind dann regelrecht, wenn keiner mehr von Jom Kippur oder vom Opferfest zu Hause erzählt, den anderen natürlich ebenso. Man darf gespannt sein, wie die – derzeit rund 200 – Schüler die Idee ins Leben tragen und weiter entwickeln.

Religion eint alle Schichten

Der Mix ist erstaunlich: Die Eltern kommen sowohl aus bildungsnahen als auch stark bildungsferneren Schichten. Besonders für Letztere ist das Ganztagsangebot konzipiert, um Benachteiligungen zu minimieren. Doch allen Eltern ist sowohl das schulpädagogische als auch das religionspädagogische Profil der Schule wichtig. Einiges im pädagogischen Konzept der Schule erinnert an Waldorf: Es gibt einen Morgenkreis und Wochenabschluss, rhythmische Unterrichtseinheiten und spezielle Bewegungszeiten. Doch die religiöse Ausrichtung ist eine ganz eigene kulturerneuernde Kraft.

Schade nur, dass die Drei-Religionen-Schule für Außenstehende nicht vor Ort erfahrbar ist. Man kann die Schule nicht besuchen. Doch das ist der Weltlage geschuldet – übermäßiges Medieninteresse hat es nötig gemacht – und vor allem den Kindern selbst. Der Schutz der Kinder ist der Schule heilig, sie sollen in Ruhe lernen und leben. »Wir wollen keine ›Zooschule‹ sein«, so Claudia Sturm.

Auch das ist am Ende wieder eine interessante, um nicht zu sagen, heilsame Erfahrung. Der radikale Schutz des Schullebens, des Individuellen, vor der medialen Sensationsgier nach O-Tönen. Da steht man nun leicht verdutzt und fragt sich: Ja, was denn nun, einfach den Worten trauen, einfach glauben, ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben? Kann ich etwas beurteilen, ohne dass ich es sinnlich vor mir habe, etwas, das sich meiner Anschauung entzieht? Wahrhaftig, genau dafür brauchen wir eigene Urteilskraft – geübt in kultureller und religiöser Form des Glaubens. Wohin muss ich in mir schauen, wohin zielen, wenn ich urteilen will? Auf mein moralisches Empfinden. Liebevolles Verständnis – darin besteht die Herausforderung.

Zur Autorin: Ute Hallaschka arbeitet als freie Autorin.