Der Wille als Weg zur Freiheit

Sven Saar

Am vierten Tag des ersten Lehrerkurses beschreibt Rudolf Steiner, wie der Wille in uns wirkt. Er erwartet, dass sich die Lehrer im Klaren darüber sind, welche Seelenregungen sie mit ihrer Arbeit anstoßen, und was genau wir im Kinde ermutigen sollen.

Die grundlegende Form des Willens ist der Instinkt. Hier geschieht alles, was geschehen muss, und zwar automatisch – wir können es nicht (oder fast nicht) steuern. Unser Herzschlag und die Verdauung fallen in diesen Bereich, auch unsere Reflexe.

Auf der nächsten Ebene ist der Trieb. Hier erleben wir Hunger, Durst, Kälte oder Überleben als motivierende Kraft, aktiv zu werden. Es passiert nicht ganz automatisch, bedarf aber eines äußeren Anstoßes.

Empfinden wir Sehnsucht und Verlangen nach Dingen, die uns nicht unbedingt nah sein müssen, ist die Begierde im Spiel. Sie ist es, die uns Ozeane überqueren lässt auf der Suche nach Ruhm, aber auch die sexuelle Lust oder den Kekshunger auslöst.

Alle drei Formen des Willens sind in uns recht unbewusst am Werke. Das haben wir mit den meisten Tieren gemeinsam. Was uns vom Tier aber unterscheidet, ist das Bewusstsein von diesen Prozessen und unsere Fähigkeit, sie mehr oder weniger steuern zu können. So kann ich Hunger empfinden, mich aber entscheiden, nichts zu essen. Ich kann aus moralischen Gründen einer romantischen Versuchung widerstehen, oder aber vollbewusst mittels einer Tafel Schokolade sündigen. Auf dieser Ebene walten höhere Seelenkräfte des Menschen über das Motiv unserer Handlungen.

Liegt ein Geschehen hinter mir, kann ich bei innerer Aufmerksamkeit eine leise Stimme hören, die mir zuflüstert: »Das hätte dir besser gelingen können!« Das löst in meinem höheren Selbst den Wunsch aus, es beim nächsten Mal auch zu probieren.

Bleibt es nicht beim vagen Wünschen, sondern versetze ich mich durch klare Schritte – zum Beispiel durch systematisches Üben – in die Lage, das auch erfolgreich umsetzen zu wollen, habe ich einen Vorsatz formuliert und verfüge über ein inneres Bild, einen konkreten Plan.

Schließlich muss ich diesen auch praktisch durchführen. Dazu muss ich einen Entschluss fassen, der alle anderen Willensebenen voraussetzt. Oft ist dieser letzte Schritt, so logisch er erscheint, der schwierigste: Er findet in der mich umgebenden Welt statt und kann nicht zurückgenommen werden.

Die Biografie eines Menschen erscheint in dieser Abfolge: Ist das neugeborene Kind noch ganz Gefangener seiner Instinkte, so werden diese doch bald zu Trieben und Begierden. Noch ist alles körper- und befriedigungsorientiert – das bleibt auch bis weit in die Kindergartenzeit so. Im Lauf der Schulzeit ist es die Aufgabe des Lehrers, den Willensprozess im Kind immer bewusster werden zu lassen. Schließlich sollen die Schüler dereinst als freie Menschen nicht nur von äußeren Zwängen, sondern auch von den Bedürfnissen ihres Körpers so wenig wie möglich abhängig sein. Je einfacher es uns fällt, unseren Willen bewusst einzusetzen, desto freier werden wir in den Entscheidungen, die wir fällen, und desto zuverlässiger sind wir im Umgang mit anderen Menschen.

Wir versuchen, die Willensflamme des einzelnen Kindes zu entfachen, damit es aus eigener Motivation heraus begeistert lernt. Das verlangt ein Umdenken einiger bewährter Traditionen, beginnt aber schon in der ersten Klasse. Denn ich muss den Kindern gar nichts beibringen, sondern nur dafür sorgen, dass sie wollen wollen.