Je höher desto besser – eine Illusion

Erziehungskunst | Herr Nida-Rümelin, warum sind Facharbeiter immer noch wichtig für die Wirtschaft, trotz zunehmender Roboterisierung?

Julian Nida-Rümelin | Durch die Digitalisierung der Wirtschaft wird der Bedarf an kompetenten, nicht-akademischen Fachkräften im MINT-Bereich eher steigen als sinken. Diese Einschätzung ist umstritten, doch auch Felix Rauner, ein Experte für Berufliche Bildung an der Universität Bremen, vertritt diese These.

EK | Immer mehr Schüler (und Eltern) wollen das Abitur. Die Anzahl der geschlossenen Ausbildungsverträge befindet sich auf einem historischen Tiefstand. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

JNR | Die Verschiebung zugunsten der akademischen Bildung hat im Wesentlichen in den Jahren 2006-2013 stattgefunden. Sie ist unterdessen gestoppt. Auslöser war nicht der Wunsch der Eltern, sondern der Hochschulpakt, der die zusätzliche Finanzierung der universitären Bildung an die Zunahme der Studierenden gebunden hat.

EK | Warum genießt die nicht-akademische berufliche Bildung so wenig gesellschaftliches Ansehen in Deutschland?

JNR | Auch das ändert sich in diesen Jahren. Es spricht sich herum, wie unsicher die Arbeitsmarktlage für viele akademische Berufe ist und wie günstig die Berufsaussichten insbesondere für Meister und Techniker sind.

EK | In ihren Warnungen vor einer neuen Bildungskatastrophe weisen Sie zusammen mit Klaus Zierer eindrücklich darauf hin, dass bei einer einseitigen kognitiven Förderung über kurz oder lang das Humane verloren geht. Wie begründen Sie diese alarmierende Perspektive?

JNR | Junge Menschen haben ganz unterschiedliche Begabungen, Fähigkeiten und Interessen. Wenn lediglich kognitive Kompetenzen geschätzt werden, werten wir einen Großteil nicht-kognitiver Begabung ab.

EK | Welche Bedeutung könnte in diesem Zusammenhang praktisches Lernen in der Schule haben?

JNR | Eine große, da in der Schule die Weichen gestellt werden für den zukünftigen Lebens- und Berufsweg.

EK | In ihrer Kritik an Pisa haben Sie herausgearbeitet, dass sich hinter der Standardisierung und Kompetenzorientierung von Tests und Prüfungen eine Kultur der Bewertung, eigentlich Abwertung unter dem Primat der Ökonomie verbirgt, die überwiegend Verlierer produziert, den Einzelnen entwürdigt und in seiner Selbstachtung trifft. Wolfgang Klafki sprach Mitte der 1980er Jahre noch von einer Verfallsgeschichte des humanistischen Bildungsbegriffs, heute sprechen Sie in diesem Zusammenhang gar von »Abwracken«. Welche konzeptionellen Umbaumaßnahmen würden Sie an unserem Bildungssystem vorschlagen, um die hohe Selektivität unserer Bildungssystems zu durchbrechen?

JNR | Welche konzeptionellen Umbaumaßnahmen – das können die Bildungspraktiker am besten beurteilen. Mir geht es nicht um Selektivität, sondern um eine Bildungskultur der gleichen Anerkennung. Die Selektivität ist durch die Akademisierung gesunken. Dies hat aber weder der sozialen Mobilität noch den Berufsperspektiven gedient.

EK | Wie sollen Schulen Ihrer Forderung nachkommen, praktische und künstlerische Talente zu entdecken, das Ästhetische und Soziale zu pflegen, wenn allein die Wissens­akkumulation und wirtschaftliche Verwertbarkeit zählen?

JNR | Die Waldorfschulen zeigen, dass das geht. Ja, alle Schule sollten diese breite angelegte Bildungspraxis übernehmen.

EK | Sie betonen die Wichtigkeit der Rückbesinnung auf eine humane Bildung. Was hat Kunst, Soziales und Praxisbezug mit humanen Bildungsprozessen zu tun?

JNR | In Kunst und Handwerk wird ein Weltbezug hergestellt, der über kognitive Kompetenzen nicht erreichbar ist.

EK | Es gilt: Je höher und besser der Abschluss, desto höher das Einkommen und die Lebenschancen. Ist das eine Illusion?

JNR | Ja, das ist eine Illusion.

EK | Sie halten die Bologna-Reform, die früh Akademiker in die wirtschaftliche Praxis holen sollte, für reformbedürftig. Warum?

JNR | Die Bologna-Reform hat fast keines ihrer Ziele erreicht: Die Abbrecherquoten sind nicht gesunken, sondern gestiegen, die Studienzeiten wurden nicht verkürzt, der Wechsel während des Studiums in ein anderes europäisches Land wurde nicht erleichtert, sondern erschwert und die Verschulung des Studiums behindert Persönlichkeitsbildung und Fächervielfalt. Gelungen ist die drastische Ausweitung der Studierendenzahlen mit der Folge, dass der stärkste Teil des deutschen Bildungswesens, das duale System der beruflichen Bildung gefährdet ist.

EK | Das duale System setzt früher an und verbindet Schule und Beruf. Jetzt plädiert ein gemeinsames Positionspapier des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) und der Kultusministerkonferenz (KMK) dafür, das »BerufsAbitur« einzuführen. Was halten Sie davon?

JNR | Wenn dieses Angebot zur Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung beiträgt, ist es zu begrüßen. Wenn es allerdings eine weitere Verschiebung von der beruflichen zur akademischen Bildung nach sich zöge, dann wäre dies ein problematischer Nebeneffekt. Grundsätzlich sollte man sich von dem Gedanken verabschieden, dass akademische Abschlüsse die höchsten Weihen sind.

Ein Meisterbrief wird nicht dadurch geadelt, dass man damit auch studieren kann, sondern weil er eine hohe berufliche Qualifikation bezeugt, die in der Regel über der eines Bachelorabschlusses liegt.

EK | Umgekehrt: Täte einem Akademiker nicht auch mehr Praxisbezug gut? Anders gefragt: Würden Sie die provokante These stützen, dass ein Teil unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme damit zusammenhängt, dass die gymnasiale Oberstufe und deren Weiterführung in unserem Bildungssystem praktische Analphabeten produziert, die dann in Führungspositionen landen und über Dinge entscheiden müssen, zu denen sie wenig Erfahrungsbezüge haben und damit auch sozial-ethische Dimensionen kaum in den Blick nehmen können?

JNR | Zweifellos ist die gymnasiale Bildung zu einseitig auf die Vorbereitung eines wissenschaftlichen Studiums ausgerichtet. Wenn in manchen Regionen Deutschlands 70, 80 oder gar 90 Prozent eines Jahrgangs das Gymnasium besuchen, dann sollte es auch einem breiten Spektrum von Begabungen, Fähigkeiten und Interessen, darunter auch sozialen und handwerklichen, gerecht werden. Die urteilsstarke Persönlichkeit bedarf einer breiten Bildung und nicht lediglich kognitiver Kompetenzen.

EK | Die Zukunftsfähigkeit unseres Bildungswesens wird gegenwärtig vielfach unter den Stichworten Digitalisierung, Globalisierung und Demokratiefähigkeit thematisiert. Welche Fähigkeiten sind Ihrer Meinung nach heute wesentlich, um den damit verbundenen Herausforderungen zu begegnen?

JNR | Nichts spricht dafür, dass Digitalisierung und Welt­offenheit die nicht-akademischen beruflichen Qualifikationen entwertet. Hier scheint eher das Gegenteil zuzutreffen: Wir brauchen in allen Berufen und Bevölkerungsgruppen urteilssichere und entscheidungsstarke Menschen, die mit den neuen Komplexitäten umgehen können.

EK | Sie verteidigen die lebensweltliche Freiheit des Individuums gegen die gesellschaftlichen funktionalen Systemzwänge. Ist ein Azubi nicht viel stärker diesen System- zwängen ausgesetzt als ein Schüler oder Student?

JNR | Dieser Unterschied war früher zweifellos groß, er hat sich aber unterdessen durch die Verflachung der Allgemeinbildung und die Verschulung des Studiums abgeschwächt. Ich glaube, dass es in allen Bereichen mehr Spielräume für individuelle Gestaltung des Bildungswesens und die Setzung von Interessenschwerpunkten geben sollte: Von der handwerklichen Ausbildung bis zum wissenschaftlichen Masterstudium.

EK | Herr Nida-Rümelin, zum Abschluss noch eine Frage an Sie als Philosoph. Die Schule, wie sie heute organisiert ist, ist noch nicht sehr alt. Im Rückblick auf unsere großen antiken Vorbilder wissen wir, dass Philosophie ohne Schule geht, aber geht Schule ohne Philosophie?

JNR | Sie rühren da an einen wunden Punkt des deutschen Bildungswesens. Obwohl ein großer Teil der relevanten philosophischen Literatur der letzten dreihundert Jahre aus deutschen Texten besteht, leistet sich Deutschland im Gegensatz zu Frankreich, Italien, Spanien, aber auch Argentinien, Chile und Brasilien den Luxus, in den Schulen das Fach »Philosophie« allenfalls als Ersatzfach für Religion anzubieten. In Frankreich oder Italien ist Philosophie zentrales Hauptfach.

Die Fragen stellten Dr. Wilfried Gabriel und Mathias Maurer.