Das Kind ist belehrt

Wolfgang Saßmannshausen

So ist das Verhältnis zum Leben am Morgen ein anderes als am Abend, am Lebensanfang ein anderes als in der Lebensmitte oder im Alter. Gleichermaßen ist das Verhältnis des Menschen zum Leben in verschiedenen kulturgeschichtlichen Zeiten völlig verschieden. Eine Wissenschaft vom Menschen wie zum Beispiel die Erziehungswissenschaft muss dieses Verhältnis des Menschen zur Zeit berücksichtigen. Hier liegt überhaupt der Schlüssel für das Phänomen der Entwicklung und Wandlung. Entwicklung ist keine Anpassung an sich verändernde äußere Bedingungen, sondern ein dem Menschen innewohnendes Motiv.

Erziehung in einer geistorientierten Kultur

Um die gegenwärtige Erwartungshaltung der Kindheit anschaulich zu machen, sei auf eine längst vergangene Erziehungs- und Kindheitskultur geschaut – die altgriechische, die den bewussten Anfang der Geschichte der Erziehung und Bildung darstellt.

Altgriechische Pädagogik fand darin ihren Ausdruck, dass sie die Kinder in die Kultur hineinführte, der ein als selbstverständlich erlebtes Bild des Menschen zugrunde lag. Der Mensch war gut entwickelt, wenn er körperlich harmonisch und schön entfaltet war. Alle Kulturleistungen entstanden wie von selbst, wenn diese Voraussetzung erfüllt war. Also war Pädagogik im Kern Körperkultur, und der Kenner und Könner der Körperkultur, der Gymnast, war der anerkanntermaßen qualifizierte Pädagoge.

Pädagogik war demnach ein Anpassungsvorgang an ein innerlich erlebtes Bild des Menschen und der Menschheit. Das Kind wurde in eine bestehende Kultur eingeführt und erhielt zugleich seinen Platz in seiner Zeit und seinem sozialen Umkreis. Alle Werte und Ideale, die ein sinnerfülltes Dasein ausmachten, waren im Umkreis lebendig, und Erziehung war der Vorgang, das Kind in diese Welt mit hineinzunehmen.

Erziehung war Pflege der Einbindung des Kindes in einen geistigen Zusammenhang; sie war gewissermaßen Belehrung des Kindes über die Bedeutung und Wirksamkeit des Göttlich-Geistigen im irdisch-sinnlichen Dasein. Deshalb war es auch höchste Erfüllung des Erziehungsgeschehens, wenn ein Kind zum Repräsentanten der geistigen Kulturwerte wurde, zum Beispiel als Tempeldiener.

Dieses pädagogische Grundmotiv einer vom ganzen Lebensgefühl getragenen und gewollten Anpassung an eine geistorientierte Kultur findet sich in der römischen oder europäisch-mittelalterlichen Zeit wieder, auch wenn die geistigen Zielsetzungen andere waren. Letztlich war dieses Grundmotiv in der bürgerlichen Erziehungspraxis des letzten Jahrhunderts immer noch aktuell.

Sinn ist nicht mehr selbstverständlich

Im Vortragswerk Rudolf Steiners finden sich Aussagen über grundlegende Wandlungen der kindlichen Erwartung­s­haltung ihren Erziehern und ihrem zukünftigen Leben gegenüber – Erwartungshaltungen, die ein Okular für die Betrachtung aktueller Fragen an Kindheit und Erziehung bieten. In einem Vortrag am 22. Januar 1921 weist Steiner darauf hin, dass das, was die Kinder an geistiger Mysterienweisheit früher durch Erziehung erfahren haben, heute vorgeburtlich veranlagt ist.

»Man kann heute nicht über den Menschen, der geboren wird, so denken, wie man in alten Zeiten gedacht hat. In alten Zeiten hat man gewissermaßen den Menschen so betrachtet, dass man sagte: Der Mensch steigt auf die Erde herunter und ist dazu berufen, durch das Mysterienwissen eingeweiht zu werden in das, was er eigentlich als Mensch ist. So liegen die Dinge heute nicht … Man hat heute nicht mehr die Aufgabe, in das Kind gewissermaßen hineinzugießen, was in alten Zeiten in es hineingegossen werden musste. Man hat heute die Aufgabe, sich zu sagen: Das Kind ist belehrt.«

Was geschieht, wenn diese Voraussetzung der kindlichen Persönlichkeit missachtet wird, wenn anpassende Belehrung mit Blick auf ein vorherrschendes Kultur- und Menschenbild erfolgt? Auch darauf findet sich eine Antwort bei Steiner in einem Vortrag vom 11. September 1920:

Wir erziehen »Rebellen, Revolutionäre, unzufriedene Menschen, Menschen, die nicht wissen, was sie wollen, ... Wenn heute die Welt revoltiert, dann ist es der Himmel, der revoltiert, das heißt der Himmel, der zurückgehalten wird in den Seelen der Menschen ... Den Himmel spüren sie in sich; er nimmt aber nur karikaturhafte Gestalt an in ihrer Seele«.

Ein zweites Motiv, das die kindliche Grundstimmung der Gegenwart charakterisiert, findet sich in einem Vortrag Steiners vom 12. Juni 1919, in dem er beschreibt, wie alle Kinder – anders als in allen Kindheitszeiten zuvor – heute mit einem melancholischen Unterton ins Leben treten, und begründet es damit, dass in der vorgeburtlich geistig erlebten Zeit die zur Erde drängenden Kinderindividualitäten den Seelen begegnen, die ihr Erdenleben gerade hinter sich haben, den Verstorbenen. Diese Begegnung lässt jedes Kind für einen Moment davor zurückschrecken, wirklich den Weg zur Erde anzutreten.

»Denn sie wissen, wie ihnen gewissermaßen das ›geistige Gefieder‹ zerzaust wird durch dasjenige, was die in materialistische Gesinnung und materialistische Weltanschauung und auch in materialistisches Tun getauchte Menschheit auf der Erde heute durchmacht.«

Das seelische Erlebnis heute ist – anders als in früheren Zeiten –, dass das Erdenleben zunehmend nicht als geistig erfüllt erlebt wurde. Mit anderen Worten: Es kommt jedes Kind heute mit der Grunderfahrung auf die Welt, dass seine Inkarnation ein seelisch-geistiges Existenzrisiko beinhaltet.

Die Erfahrungen heutiger Pädagogen zeigen, dass sich seither die Verhältnisse grundlegend gewandelt haben: Vor allem im Vorschulalter und in den unteren Schulklassen treten nach Aussage von Praktikern zwei Auffälligkeiten immer mehr in den Vordergrund.

Zum einen nimmt die Zahl der Kinder zu, die dadurch auffällig sind, dass sie die Eigenschaft haben, unauffällig und unbemerkt zu sein. So gibt es viele Kinder, von denen die Pädagogen wissen, dass sie formal anwesend gewesen sind, jedoch sich einer intimeren Beobachtung entziehen – etwa der Art, dass es enormer Aktivität bedarf, um zu ahnen, wie es den Kindern im Verlauf des Kindergarten- oder Schul­tages geht, mit welcher Freude oder Unlust sie beteiligt sind, wie sie zuhören oder sich mitbewegen. Es handelt sich um eine Tendenz, nicht deutlich in soziale und sinnliche Erscheinung zu treten, sich gewissermaßen zurückzunehmen und wie von außen dem eigenen Lebensumfeld gegenüberzustehen. Bildlich gesprochen erscheinen solche Kinder wie »wund«, als würden sie ängstlich eine Reibung mit den Berührungsflächen des Lebens meiden. Bis in physiologische Erscheinungsformen, zum Beispiel die Neurodermitis, äußert sich dieses »Wundsein«.

Die andere dominante Tendenz moderner Kindheit ist die gegenläufige: Kinder, die durch ein übermäßig deutliches Sich-in-Szene-Setzen in Erscheinung treten. Hier sind alle Formen des aggressiven Verhaltens oder der Hypermotorik und Hyperaktivität zu nennen. In überdeutlicher Weise »protestieren« diese Kinder gegen die Maßnahmen und Versuche, »Kultur« an sie heranzutragen. Besonders Momente verinnerlichter Stimmung – zum Beispiel Erzählphasen, feierliche Momente oder Stille – können diese Kinder kaum ertragen und brechen aus, wenn sie nicht durch fragwürdige strenge und unterdrückende Maßnahmen daran gehindert werden.

Motive kindlicher Auffälligkeit

Was liegt diesen Phänomenen zu Grunde? Zum einen ist es der Zweifel, dass das Leben auf dieser Erde und in dieser Gesellschaft erfüllt sein kann, der das Kind so verhalten sein lässt. Zum anderen ist es die innerlich latent vorhandene Realität, dass die Weisheit vom Sinn des Lebens nicht von außen, sondern nur aus dem eigenen Innern hervorgeholt werden kann. Nicht Belehrungen über den Sinn des Daseins, sondern in der Begegnung erlebte Sinnhaftigkeit ist die latente Erwartung der Kinder – eine Erwartung, dass der erziehende Erwachsene sein Leben mit Sinn erfüllt.

Damit wird der Blick weg vom Kind zum Erzieher gelenkt: Eine moderne Erziehung, die den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden will, verlangt nicht den einseitigen Zugriff auf die Kinder, sondern bezieht die individuelle intime Lebensgestalt des Erziehers mit ein.

In diesem Sinne ist Pädagogik heute nur systemisch und als Partnerschaft zu begreifen, aber nicht in einem sentimentalen Sinn, sondern mit dem tiefen Ernst, dass nur derjenige erziehen kann, der bereit ist, in der Begegnung mit dem Kind selbst zu lernen. So ist die Behauptung Rudolf Steiners erst verständlich, dass erst dann von Erziehung gesprochen werden kann, wenn der Erzieher mindestens genauso viel lernt wie das Kind. Wenn nicht, handelt es sich um eine andere Begegnung, die vielleicht Anpassung an bestimmte Normen beinhaltet, aber nicht den Menschen erzieht.

Auf sich selbst zurückgeworfen

Wie lässt sich dieses Motiv als ein der aktuellen Zeit entsprechendes verstehen? – Zwei Tendenzen zeichnen ein Bild der Gegenwart: Zum einen leben wir in der Epoche der Globalisierung. Dies bedeutet, dass die Entfaltung von Kultur- und Gesellschaftsprozessen nicht mehr in einem isolierten Raum geschieht, sondern sich weltweit verbreitet und der ganzen Menschheit zur Verfügung steht. Dies hat zur Folge, dass Werte, Normen, Traditionen und Bräuche, die einer überschaubaren Menschengemeinschaft eigen waren, eine immer geringere Gestaltungskraft ausüben.

Die andere Tendenz ist die Entsprechung der ersten: Der Einzelne wird immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen. Die ihn umgebenden »Hüllen« seiner Herkunft, seines Standes, seiner Religion und seines Geschlechtes haben zunehmend geringere Bedeutung und nicht mehr die Kraft, von innen getragene und verantwortete Motive zu schaffen. Eine erfolgreiche Sozialisation und Entwicklung führt demnach auch nicht mehr zu einer herausragenden Repräsentanz einer Gruppenwertewelt, sondern zu einer individuellen Gestalt, die einmalig und unverwechselbar ihre Biographie meistert. Anders formuliert: Der Mensch wird zum Selbstgestalter seines Schicksals und setzt selbst moralische und menschliche Normen, die seinem Handeln zugrunde liegen. Der Mensch ist immer mehr ausschließlich selbst verantwortlich für die Gestaltung seiner Biographie.

Auf diese Tendenzen bezogene Erwartungen bringen die Kinder aus ihrer vorgeburtlichen Sphäre mit ins Leben. Insofern ist Erziehung heute – anders als zu Zeiten der Anpassung an eine allgemeine Wertewelt – ein Akt der intimsten Schicksalsbegegnung.

Vielleicht erklärt dieser Blickwinkel auch das Phänomen, dass erfahrene Pädagogen zunehmend das Gefühl haben, vor neuen und schwierigeren Aufgaben zu stehen, die – trotz zunehmender Erfahrung – ein Scheitern nicht ausschließen.

Für pädagogische Einrichtungen hat das zur Folge, dass der einzelne Pädagoge einen immer größer werdenden Freiraum benötigt, um sich auf das »Abenteuer Erziehung« einlassen zu können. So ist die Aussage Steiners bei der Gründung der Waldorfschule verständlich, dass der Lehrplan aus der Begegnung des Pädagogen mit den einzelnen Kindern immer wieder neu zu erstehen hat – unabhängig davon, dass altersspezifische Entwicklungsrhythmen in Kindheit und Jugend walten.

Damit wird ein weiterer Aspekt angesprochen: Moderne Erziehungswissenschaft kann nicht theoretisch »ausgedacht« und erforscht werden. Sie kann nur in der Verbindlichkeit der erzieherischen Aufgabe gegenüber geboren werden, da der Forscher und Wissenschaftler – anders als beim traditionellen Wissenschaftsbegriff naturwissenschaftlicher Prägung – mit seiner Biographie unmittelbar einbezogen ist in das zu erkennende Feld. Der moderne Erziehungsbegriff weist nicht nur auf die intimen Willensintentionen und Visionen des Kindes hin, sondern auch auf die des Pädagogen. Deshalb gehört es zu dessen Basisqualifikationen, die eigenen Lebenserfahrungen so reflektieren zu können, dass die eigenen Ziele bewusst werden.

Zum Autor: Dr. Wolfgang Saßmannshausen, Jahrzehnte in der grundständigen (Waldorf-)Erzieherinnenausbildung an der Hiberniaschule Herne und im Rudolf Steiner Berufskolleg Dortmund tätig, dann im Auftrag der Vereinigung der Waldorfkindergärten und freiberuflich mitverantwortlich für Aus- und Fortbildung von Waldorferzieherinnen weltweit.

Literatur: R. Steiner: Der innere Aspekt des sozialen Rätsels, GA 193, Vortrag vom 12.6.1919, Dornach 1977 | R. Steiner: Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung, GA 199, Vortrag vom 11.9.1920, Dornach 1967 | R. Steiner: Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung, GA 203. Vortrag vom 22.1.1921, Dornach 1978