Auf den Spuren des Malers Giovanni Segantini

Mathias Maurer

Nach Jahren regte sich in Kurt Bräutigam der Wunsch, noch einmal auf den Schafberg zur »Segantini-Hütte« zu steigen. Mit seinem Wanderkameraden – einem bergbegeisterten Schulvater aus der Klasse – wanderten sie von Sils Maria nach Maloja zu Segantinis Grab und zur Chiesa Bianca. Bei der Kirche angekommen, stand eine Frau, die sie aufs Freundlichste begrüßte. Es war Gioconda Segantini, die Enkelin des berühmten Malers. Bräutigam berichtete ihr von den Schülerarbeiten, worauf sie sie spontan einlud, in der Chiesa Bianca eine Ausstellung mit den Aquarellen und Aufzeichnungen der inzwischen 22-jährigen ehemaligen Schüler zu gestalten. 

Schülerzitat:

»Wenn ich an das Malen der Bilder zurückdenke, dann ist das Erste, was mir in den Sinn kommt: Freude.«

In der 6. Klasse bietet der Lehrplan der Waldorfschule neue Herausforderungen, die den Schülern an der Schwelle vom Kindes- zum Jugendalter entsprechen. Neu kommt die Physik dazu, vielleicht eine erste Wirtschaftskunde, die Einführung in die Algebra, das exakte Konstruieren mit dem Geometriewerkzeug, neue Techniken im Malen und Zeichnen und die Gesteinskunde. Bräutigam hat Letztere stets miteinander verbunden, indem er die Zwölfjährigen auf den Spuren des großen Alpenmalers Giovanni Segantini zeichnend und malend die wunderbare Gesteinswelt der Bergeller und Engadiner Berge entdecken ließ.

Schülerzitat:

»Während des Wanderns hat mich immer der Gedanke begeistert, dass wir auf Wegen gingen und Dinge sahen, die auch Segantini gegangen war und gesehen hatte.«

Damals hatten sich die Sechstklässler intensiv auf die Bergwoche vorbereitet: Segantinis eindrucksvolle Biografie, die in dieser Altersstufe sehr gut ankommt, seine dramatische Geburt und sein nicht weniger dramatischer Tod, ein Lebensbeginn in Armut und Krankheit. Doch wie ein Phönix befreite sich Segantini im Laufe der Jahre aus den Fesseln seiner Herkunft und wurde als viel beachteter »Meister des Lichts« berühmt. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens – beim Malen auf dem Schafberg – verstarb er überraschend, mit 41 Jahren. »Sein Zusammenführen von Kunst und Landschaft, vor allem aber sein seelischer Ausdruck in den Werken ist einmalig«, so Bräutigam.

Die Klasse machte sich damals daran, Segantinis Hauptwerk – das Triptychon mit den drei Monumentalwerken »Werden – Sein – Vergehen« genau zu betrachten und auf eigene Weise als Aquarell nachzuschaffen. Die ehemalige Schülerin Sarah-Sophie erinnert sich, »wie wir Schüler dieses Projekt ernst nahmen und tief versunken mit großer Aufmerksamkeit für Details an unseren Werken arbeiteten«.

Die 28 jungen Künstlerinnen und Künstler schufen je drei Werke – eine eindrückliche Sammlung von über 80 Aquarellen entstand.

Schülerzitat:

»Beim Aufstieg zur Segantini-Hütte wurde mir bewusst, welche Strapazen Segantini auf sich nahm, um seine  Bilder in freier Natur zu erschaffen.«

Mit dieser Erfahrung im Rucksack zog die Klasse von Juf kommend zu Fuß via Forcellina, Septimer und Lunghin nach Maloja. Einer der Höhepunkte dieser Woche war der Aufstieg zur Segantinihütte und der anschließende Besuch des Segantini-Museums in St. Moritz. Als die Klasse den Kuppelsaal mit den drei Bildern des Triptychons betrat, waren die Schüler von der Größe und Leuchtkraft der Werke überwältigt.

Nach zehn Jahren erfüllt sich die Idee einer Ausstellung

»Schon immer dachte ich, man sollte die Werke der Schüler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen und zeigen, wie Segantinis Kunst die jungen Menschen zu eigenem künstlerischen Schaffen anregt«, so Bräutigam. Es hat lange gedauert, bis es zur zufälligen Begegnung mit der Enkelin des Malers vor der Chiesa Bianca kam. Die Eröffnung der Ausstellung fand in Majola im Sommer 2020 statt.

Die Bilder und Zitate der Schüler, die sie dafür beisteuerten, zeugen davon, wie sehr sie sich bis heute mit dem Projekt verbunden fühlen.

Ein Ausstellungskatalog ist über die Rudolf Steiner Schule Kreuzlingen erhältlich: www.rssk.ch