Auf der Suche nach dem verschwundenen Gelb

H. Christian Ohlendorf

Dieses Buch ist viel mehr als ein Begleitkatalog zu einer Ausstellung und einem Jubiläum: mit hervorragenden Fotos von Exponaten, und Seite für Seite instruktiven Originalzitaten sowie ergänzenden Texten führt es durch alle Abteilungen der Farbenlehre Goethes. Aber es bietet darüber hinaus eine breit angelegte und in die Tiefe gehende Einführung in die Frage: Wie steht Goethes Farbenlehre, ja sogar: Wie steht Goethe in unserer Zeit? Wir haben es in Mitteleuropa schwer, ein unmittelbares Verhältnis zu unserem »Weisen von Weimar« zu entwickeln. So ist es gut, wenn in dem besprochenen Buch gleich zu Anfang dem Leser ein grundlegender Artikel angeboten wird »Zur wissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Bedeutung von Goethes Farbenlehre«, der aus der Feder von Martin Basfeld stammt. Da wird in der biographischen Betrachtung Goethes die Schicht der »Einflüsse« und »Vorlieben« beiseite gelassen und das individuell Schicksalhafte, Wirksame in seinem Leben ernst genommen, das bei einem Geist seiner Ausstrahlung immer zugleich von zeitgeschichtlicher Dimension ist. Es wird sichtbar: Goethes wissenschaftliches Streben, sein Vorhaben, die Wurzeln des Farbigen bis zu der Polarität von Licht und Finsternis zu verfolgen, ruht auf biographischen Einschlägen – die Wucht der Fragen erlaubt keine einfachen Antworten! Die Newtonsche Farbidee weist er nicht zurück, weil er diese für falsch hält, sondern weil sie ihm nicht genügt. Sie wird der Dimension der Frage nicht gerecht, die bei Goethe das Rätsel des Farbenerlebnisses, und das heißt letztlich das Rätsel des Menschen, mitenthält. Profund vorbereitet genießt man das ganze Buch anders: die erlesene Qualität der Ausstellungsbauten, die Entdeckerfreude bei der Suche nach dem verschwundenen Gelb im Physikalischen, den kenntnisreichen Überblick über die 200 Jahre Rezeptionsgeschichte der Goethe-Farbenlehre, den beeindruckenden Ernst der Künstler bei ihrem übenden Dialog mit den Farbwelten, die selbstverständliche Präsenz der fein unterschiedenen Farbqualitäten bei den eurythmischen Bewegungen.

Ein besonderes Kapitel soll hier noch erwähnt werden: die von Matthias Rang entwickelten Experimente, die er auf den letzten Seiten vorstellt und in den Kontext von Newtons experimentum crucis einordnet. Sie können als Einladung an den fachkundigen Leser verstanden werden, selbst die Versuche durchzuführen und sich so in die Details der Interpretation einzuarbeiten. Die sich überall zeigende konsequente Komplementarität der Farbphänomene inspiriert dazu, die physikalische Denkmethode zu beobachten und zu erweitern. Man erhält Einblick in den laufenden Prozess einer wissenschaftlichen Arbeit, auf deren weitere Schritte man gespannt sein darf. Eine überaus reiche, gelungene Publikation, der man, besonders in den Schulen, eine weite Verbreitung wünscht!

Johannes Kühl (Hrsg.): Experiment Farbe: 200 Jahre Goethes Farbenlehre. 240 S., Pb. EUR 26,–. Verlag am Goetheanum, Dornach 2010

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