Auf der Suche nach der großen Freiheit

Mathias Maurer

Ein Jahr bereiten sie sich auf die lange Reise vor. Die zwei kleinen Kinder Nils (damals drei Jahre alt) und Lisa (18 Monate) finden sich schnell in ihrem neuen, nur zehn Quadratmeter großen Zuhause zurecht. Die Familie segelt über den Ärmelkanal, den Golf von Biscaya, an der spanischen Atlantikküste entlang, bis nach Portugal, wo sie in der Nähe von Faro überwintern und wilden Spargel essen, weiter zu den Kanaren, dann der große Sprung über den Atlantik nach Martinique, durch den Panamakanal zu den Galapagos-Inseln, Marquesas, Tonga, dann Neuseeland, weiter über Indonesien, Thailand, die Malediven, durch den Suezkanal ins Mittelmeer.

Dort treibt sie der Westwind vom Kurs ab und sie landen zufällig auf Kastellorzio, einer kleinen griechischen Insel unweit der türkischen Grenze, wo sie ein Jahr lang leben, bis sie nach Deutschland zurückkehren müssen.

Wenn zweitausend Seemeilen um einen herum und unter dem Kiel fünftausend Meter Wassertiefe liegen, ein grenzenloser Sternenhimmel darüber, bei völliger Flaute, dann kommt man zwangsläufig zum Wesentlichen im Leben, meint Ben Hadamovsky. Seine größte Angst ist nicht, im Sturm unterzugehen oder von Piraten geentert zu werden, sondern mit einem der vielen Container zu kollidieren, die knapp unter der Wasseroberfläche der Weltmeere treiben und den Rumpf aufschlitzen könnten. Überhaupt hat er an fast alles gedacht: Er hätte auch versucht, mit seinem Not-OP-Besteck einen akuten Blinddarm auf hoher See zu operieren – es waren dann nur der Motor, der ausfiel und per Satelitentelefon repariert wurde, und ein paar Pflaster aus der Bordapotheke nötig.

Die Kinder langweilen sich nie, im Gegenteil, jeder Ankerplatz wird zum Abenteuerspielplatz mit einheimischen Kindern und exotischem Strandgut. Sie sind die Türöffner bei allen Aufenthalten an Land. An Bord werden Stöckchen zu Wäldern, Sand zu Feenstaub, Muschelschalen zu Spiel­kameraden und es werden endlose, selbsterfundene Geschichten erzählt.

Jeder gewohnte Luxus fehlt. Ohne Auto, Kühlschrank, Dusche, Waschmaschine wird jede häusliche Aufgabe, jeder Einkauf zum Tagesprogramm – aber sie haben jede Menge Zeit. Freiheit und Phantasie ohne Grenzen – was gibt es mehr? Das war anstrengend, erinnert sich Ben Hadamovsky. Wer bin ich? Willst Du das wirklich? Wir sollten doch glücklich sein, denn wir leben ja unseren Traum …

Ben war ein Getriebener. Er will immer weiter, selbst an den schönsten Orten, denn hinter dem Horizont könnte Wichtigeres, das bessere Leben auf ihn warten. Seine Selbst­therapie ist hart, denn die Erkenntnis ist unausweichlich: Nicht das Schiff ist eng, sondern das Innere des Menschen.

Auch das Ehepaar Hadamovsky kann sich nicht mehr aus dem Weg gehen. Die Weigerung, im Verhalten des Partners den Spiegel zu sehen, muss überwunden werden. An Land ist es leichter, sich abzulenken oder zu verstecken. Die See und das Leben an Bord lehrt sie rückhaltloses Vertrauen und Dankbarkeit. Sie ankern in den schönsten Buchten der Welt, tauschen in Tonga Corned Beef gegen Papayas und frischen Hummer, Buckelwale und Delphine umtanzen das Schiff, nachts leuchtet das Plankton im Kielwasser, Goldmakrelen werden geangelt und gegrillt. Und bei Sturm und Windstärke zehn werden auch mal drei Tage unter Deck verbracht.

Doch sie leben nicht alleine in ihrem selbstverordneten Paradies. Das globale Müllproblem holt sie ein: Müllteppiche bedecken die Weltmeere. Besonders schlimm ist es in Indonesien, wo Plastikfetzen immer wieder die Schiffsschraube blockieren, oder in Neukaledonien, wo Berge von Elektroschrott das kostbare Trinkwasser der Inseln verseuchen. Ben bemerkt, wie abstrakt sein europäisch geprägtes, öko­logisches Denken war.

Es sollten zwei Jahre sein, fünf sind es geworden. Die Kinder werden schulpflichtig. In Neuseeland überlegen die Hadamovskys, sich im Umfeld der Waldorfschule in Tauranga niederzulassen. Doch die Mentalitätsunterschiede und das Gefühl, am Ende der Welt zu sitzen, während in Europa die Zukunft gestaltet wird, treiben sie trotz der  wunderbaren Landschaft und freundlichen Menschen nach mehrmonatigem Aufenthalt weiter. Per Zufall bleiben sie bei der Heimreise auf der kleinen 200-Seelen-Insel Kastellorizo in der südlichen Ägais hängen. Dort lernt Carola von den Einheimischen, die dort als Fischer, Handwerker, Wirte und Künstler leben, alles über Kräuter, Ben hat einen Job als Tischler und die Kinder besuchen die Schule. Die Inselbewohner nehmen sie herzlich auf, beinahe werden sie dort sesshaft, bis die Reise ein tragisches Ende nimmt.

Carola fliegt zu Besuch nach Deutschland. Der Schwiegervater ruft an: Die Tochter liegt auf der Intensivstation und ringt um ihr Leben. Bei einem kleinen chirurgischen Eingriff wurde sie lebensgefährlich verletzt und zweimal notoperiert. Ben steht plötzlich vor der größten Frage seiner Reise: Was ist, wenn sie stirbt?

»Ich habe mit ihr die Welt umsegelt, wir sind eine Crew geworden. Wer hält Wache, wenn ich schlafe?« Carola überlebt, aber eine Rückkehr ist undenkbar, die Genesungszeit beträgt zwei Jahre. Jetzt stehen die Hadamovskys vor weniger als zu Beginn ihrer Reise und fangen wieder ganz von vorne an. Nach einem Jahr holt Ben das Boot zurück – allein. Es ist seine schwerste Etappe. Er kreuzt den alten Kurs und ist dankbar für seine mutige Frau. Ohne sie würde er immer noch in Bremen sitzen und von der Freiheit träumen.

Buchtipp:

Ben Hadamovsky: Mit allen Wassern gewaschen (ISBN 978-940140-95-1). Bestellungen und Vortragstermine auf der Homepage: www.hadamovsky.de