Auf die Erde kommen I. Die Zeit der Schwangerschaft
Seit jeher hat um Schwangerschaft und Geburt ein großes Geheimnis gelegen, sowohl auf kulturellem Gebiet wie auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Das hat sich zwar gründlich geändert, aber der Schwangerschaft nichts von ihrem Zauber genommen.

Es gibt wohl keine nähere körperliche Verbindung zwischen zwei Wesen, als zwischen dem Ungeborenen und seiner Mutter. Foto: colorbox
In früheren Zeiten haben die Frauen, abgeschirmt von aller Öffentlichkeit, ihre Kinder im Verborgenen mit Hilfe einer Hebamme zur Welt gebracht. Auch nach der Geburt wurde das Kind in gehobenen Kreisen nicht von der leiblichen Mutter gestillt, sondern hatte eine Amme, die diese Funktion übernahm. Kinder wurden erst interessant, wenn sie diese erste, in sozialer Hinsicht »nutzlose Zeit« hinter sich hatten und zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft herangewachsen waren.
Erst allmählich erfolgte eine gewisse Enttabuisierung, die oftmals sogar in das Gegenteil umschlug, und alles öffentlich machte, was vorher – vielleicht aus berechtigten Gründen – zu den intimsten Vorgängen des menschlichen Lebens gehörte. Geboren wurde bald nicht mehr zu Hause im stillen Kämmerlein, sondern zunehmend auf speziell dafür eingerichteten Geburtsstationen öffentlicher Krankenhäuser, ja, es wurde geradezu als gefährlich angesehen, noch zu Hause zu gebären. Väter waren anfänglich noch ausgeschlossen vom ganzen Geschehen, erst allmählich fanden auch sie Zugang zu den Kreisssälen und konnten bei der Geburt des gemeinsamen Kindes mit anwesend sein. Heute ist es fast schon eine Selbstverständlichkeit, dass ein Vater die Nabelschnur des Kindes durchtrennt.
Durch die Geburt im Krankenhaus sank die Säuglingssterblichkeit auf ein Minimum, jedenfalls in Ländern, die eine entsprechende medizinische Versorgung anzubieten haben. In einem speziell dafür eingerichteten Raum erblickt nun das Neugeborene das Licht der Welt. Oftmals ist es aber nur das Licht einer hell leuchtenden Operationslampe. Die Zahl der Kaiserschnitte steigt immer mehr an. Dadurch ist es der Mutter nicht mehr möglich, die Geburt (oder das »Fest der Geburt«, wie Frédérik Leboyer es nennt) bewusstseins- und empfindungsmäßig mitzuvollziehen.
Die Neonatologie entwickelt sich
Eine Geburt wird heute nach wissenschaftlichen Kriterien von dafür ausgebildeten Fachleuten beurteilt, so dass es oftmals als Kunstfehler gilt, wenn die Umstände nicht den wissenschaftlichen Kriterien entsprechen. Selbstverständlich wurde es auch dadurch erst möglich, dass immer mehr Mütter und Kinder vor einer oft grauenvollen und auswegslosen Geburtssituation gerettet wurden, die früher fast ausnahmslos mit dem Tode endete.
Zu früh geborene Kinder musste man früher ihrem Schicksal überlassen. Man tat zwar alles für sie, was ihr Überleben ermöglichen konnte, doch erst durch die Einführung der Brutkästen (Inkubatoren), der parenteralen Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr und vor allem der künstlichen Beatmung war der Anfang gemacht für eine Medizin, die zu den erstaunlichsten Resultaten führte und durch welche eine ganze Ära in der Medizingeschichte ihren Anfang nahm.
Die Neonatologie wurde »geboren « und gewann immer mehr an Bedeutung. Heute hat jedes größere Krankenhaus mit Zentrumsfunktion eine neonatologische Intensivstation mit hochentwickelten technischen Überwachungs- und Behandlungsgeräten. Dort können inzwischen Kinder am Leben erhalten werden, die weniger als 25 Wochen im Mutterleib verbracht haben. Ihr Geburtsgewicht liegt oft weit unter 1000 Gramm, nicht viel mehr an Gewicht als eine große Grapefruit. Doch nicht das Geburtsgewicht der Kinder ist ausschlaggebend für ihr Überleben, sondern der Grad der Reife ihrer Organe, insbesondere ihres Nervensystems, ihres Kreislaufsystems, ihrer Lungen und ihrer inneren Organe mit dem gesamten Verdauungsapparat, der für die Aufnahme von natürlicher Nahrung noch gar nicht geeignet ist. Diese noch nicht vollständig ausgereiften Organe und Organsysteme stellen die heutige Medizin vor immer größere Herausforderungen. Es scheint der Punkt erreicht, an dem keine weiteren Fortschritte mehr in der Neonatologie erzielt werden können.
Gleichzeitig sind bei diesen bewundernswerten Fortschritten in der Neu- und Frühgeborenenmedizin, die erst in den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts ihren Anfang nahmen, auch viele Schattenseiten vorhanden. Nicht alle Frühgeborenen und vor allem extrem Frühgeborenen überleben dieses Ereignis unbeschadet. Die Säuglingssterblichkeit ist durch die Frühgeborenenmedizin paradoxerweise wieder angestiegen, was sich durch die hohe Komplikationsrate während der ersten Lebenszeit dieser Kinder erklärt. Neben den zweifellos vielen Kindern, die Dank der intensiven Hilfe überlebt haben und nun eine gesunde und normale Kindheit durchlaufen, gibt es auch etwa genau so viele, die einen bleibenden gesundheitlichen Schaden davontragen und ihr ganzes weiteres Leben geistig und körperlich behindert zu Hause oder in Heimen verbringen.
Die Weichen werden gestellt
Wenn eine Frau ein Kind erwartet, spielen diese Überlegungen und Gedanken natürlich keine Rolle in ihrem Bewusstsein. Die Welt verändert sich für sie, in welche Richtung auch immer. Entweder ist es das schon lang ersehnte Kind, das sich nun endlich ankündigt, oder es ist eine Überraschung, mit der sie zunächst gar nicht gerechnet hat, manchmal ist es sogar eine Störung im Leben einer Frau. Die ersten Tage und Wochen der Schwangerschaft verlaufen von den äußeren Zeichen her gesehen noch völlig unbemerkt und die Frau verändert sich körperlich nur wenig.
Dies ist jedoch gerade die Zeit, in der »die Würfel fallen«, z.B. ob ein Kind mit einer Chromosomenaberration heranwächst oder ob entscheidende Organe nicht richtig veranlagt werden. Noch bevor eine Schwangerschaft für die werdende Mutter so richtig begonnen hat, sind bereits die Weichen gestellt, die das Leben einer Familie und des betroffenen Kindes, das da kommt, entscheidend beeinflussen können. Erst dann bleibt die gewohnte Menstruation aus und die Mutter verspürt Symptome an sich, die sie vorher nicht in dem Maße gekannt hat, wie vermehrte Müdigkeit, Übelkeit, Heißhunger auf bestimmte Nahrungsmittel oder auch Widerwillen dagegen. Auch im sozialen Leben verändert sich einiges, die Beziehung zum Partner wird anders, weil sich plötzlich eine andere Dimension aufgetan hat. Das Verhältnis zu Freunden, Bekannten und Verwandten kann sich ebenfalls in eine andere Richtung entwickeln und das Berufsleben oder die Ausbildung muss sich den Gegebenheiten unterordnen, auch wenn das am Anfang der Schwangerschaft noch nicht immer so deutlich wird.
Das Ungeborene wächst und wird wahrgenommen
Erste Kindsbewegungen werden erst in der 16. bis 20. Schwangerschaftswoche von der Mutter wahrgenommen. Dies ist der Zeitpunkt, wo auch äußerlich eine Veränderung mit der werdenden Mutter vor sich geht. Sie spürt ein von ihr unabhängiges Wesen, das sich in ihrem Bauch bewegt und ihr immer wieder in das Bewusstsein ruft, dass sie es mit einem lebenden, sich bewegenden Wesen zu tun hat. Sie fühlt sich mit ihm aufs Innigste körperlich und seelisch verbunden, es gibt wohl keine nähere körperliche Verbindung zwischen zwei Wesen, als zwischen dem Ungeborenen und seiner Mutter. Die Kindsbewegungen werden als sanft und streichelnd, oder auch als kräftig und impulsiv empfunden. Die Erwartung, das neu entstehende Kind in absehbarer Zeit auch wirklich vor sich zu sehen, wächst von Woche zu Woche. Auch für den Vater wird das Heranwachsende allmählich Realität, indem er über die Bauchdecke der Mutter die Bewegungen des Ungeborenen zunächst fein, dann aber zunehmend stärker wahrnehmen kann.
Bis in die feinsten Körperstrukturen hinein entwickelt sich das Kind von einem kleinen, ungeordneten Zellhaufen zu einem lebendigen, strukturierten Organismus, dessen Ausgangspunkt und Ziel bis heute noch nicht in seiner ganzen Dimension erfasst werden kann. Molekulargenetische Signale, die das Wachstum eines Ungeborenen steuern, Gene, die einzelne Zellen dazu veranlassen, sich zu Leber, Hirn, Haut oder Haarzellen zu spezialisieren oder Hände wachsen lassen – all das erklärt nicht, warum sich ein Kind zu dem entwickelt, was es später ist.
Im 6. Monat, wenn sich der ganze Körper des Fötus mit einem fellartigen Lanugohaar bedeckt, ist die vollständige Ausdifferenzierung zum menschlichen Körper bereits abgeschlossen und es findet nur noch ein Wachstums- und Reifungsprozess bis zur Geburt statt. Zu Beginn der Schwangerschaft führt der Fötus ein fischähnliches Dasein, bis zur Ausbildung von Kiemenbögen, die sich später ausdifferenzieren in Zungenbein, Unterkiefer und Gehörknöchelchen. Diese Metamorphose des menschlichen Embryos hat Ernst Haeckel dazu veranlasst, das biogenetische Grundgesetz zu formulieren: »Die Ontogenese ist eine verkürzte Rekapitulation der Phylogenese«, was etwa bedeutet, dass der menschliche Embryo in seiner Entwicklung im Mutterleib in verkürzter Form die gesamte Evolution der Menscheit andeutungsweise durchmacht.
Ziemlich genau nach 40 Schwangerschaftswochen werden Wehen bei der Mutter ausgelöst, die teilweise durch den abfallenden Spiegel des Gelbkörperhormons bedingt sind. Dieses Hormon hat dafür gesorgt, dass die Gebärmutter während der Schwangerschaft bereit war, das Kind in sich entwickeln zu lassen und es nicht abzustoßen. Neueste
Forschungen zeigen jedoch, dass der Zeitpunkt der Geburt zur Hauptsache vom Kinde selber ausgelöst wird, nämlich durch einen bestimmten Faktor in der Lunge des Kindes, der dem mütterlichen Organismus signalisiert, dass die Lunge bereit ist, die Luft in sich aufzunehmen und mit der Atmung außerhalb des Mutterleibes zu beginnen. Und man kann hinzufügen, dass die Tageszeit, die Jahreszeit, ja sogar die Konstellation der Sterne (aus der man später das Horoskop liest) nicht unbedeutend für die Geburt des Kindes sind. (wird fortgesetzt)
Literatur: Dietrich Bauer u.a.: Gespräche mit Ungeborenen, Stuttgart 1986; Remo H. Largo: Babyjahre, München 2001; Frédérik Leboyer: Geburt ohne Gewalt, München 1999
Zum Autor: Erdmut J. Schädel, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Heilpädagoge; als leitender Arzt an der Ita Wegman Klinik und am Kinderheim Sonnenhof in Arlesheim/Schweiz tätig.
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