Auf die Haltung kommt es an. Ist Waldorfpädagogik auch ohne Epochen möglich?

Thomas Lutze-Rodenbusch

Seit gut einem halben Jahr war ich nun mit der 12. Klasse in Fachstunden und einer Epoche in die Geschichte des 19. Jahrhunderts eingestiegen. Aber nachdem mehr als ein Drittel der Schüler nach dem Ende der 11. Klasse die Schule verlassen hatte, waren die Schülerinnen und Schüler zunächst in der neuen Zusammensetzung mit wenig Ernst bei der Sache. Im Herbst erst war die Klasse ins Arbeiten gekommen, nachdem die ›Hängepartie‹, geprägt von wenig Einsatz und viel Interesse an Außerschulischem, zu Ende gegangen war.

Als ich die zweite Geschichts-Epoche vorbereiten wollte, war ich unsicher. Passt die sogenannte »Überblicks-Epoche« wirklich? Mein gewohnter Zugriff hätte tief in die historische Vergangenheit geblickt. Diese Schülergruppe hatte aber an dem neuen Thema Interesse gefunden und begann auch Spaß an den Methoden zu entwickeln, die zum Beispiel für die Quellenanalysen geübt werden müssen. Das neue Thema war die »Soziale Frage« im 19. Jahrhundert. Sollte ich jetzt einen groß angelegten Rückgriff organisieren, mit dem entscheidenden Ziel, aus diesem historischen Überblick heraus »lebendige, individualisierte, zukunftsfähige Urteilsfindung« in den Jugendlichen anzulegen und zu üben? Das ist ja das zentrale Motiv für die Klasse 12! Doch dieser klassische Überblick hätte nicht zum Arbeitsstrom gepasst, in dem ich uns sah.

Sollte ich nach vielen Jahren diese zentrale Epoche weglassen und dem Abiturstoff den Vorrang geben? Ich habe gute, bewährte Konzepte parat, die den Bogen von der Antike, ja von der Vorgeschichte, bis zur Gegenwart spannen. – Ich sah mich in einem Loyalitätskonflikt mit dem Ideal der Waldorfpädagogik. Aber ein ›komisches Gefühl‹ ist oft ein guter Ratgeber. Ich überlegte also: Kann man auch ohne diese Epoche, gewissermaßen in der Art, wie man den Unterricht anlegt und wie man Schülerinnen und Schüler anspricht, waldorfspezifischen 12.-Klassen-Unterricht im Fach Geschichte geben? Und so – Ziel aller guten Bildung – die Schülerinnen und Schüler »Urteilskraft« einüben lassen?

Ich beschloss, die Epoche tatsächlich zu streichen, das Thema der »Sozialen Frage« und damit die Abiturvorbereitung systematisch weiter zu verfolgen, aber dabei eine innere Haltung aufzubauen, die das übergeordnete Ziel immer im Auge behalten wollte. Ich hatte also eine Dauer-Frage, eine ›Frage-Haltung‹ parallel zur Stofferarbeitung.

Ein Dramolett zur sozialen Frage

Und dann bekam ich eine Idee. Ich lasse die Schüler ein Mini-Drama schreiben, ein Dramolett. Im Zentrum dieser Idee stand, den Urteilsprozess über einen kreativen Schreibauftrag zu initiieren. In dem Dramolett sollen die Schüler zwei handelnde Personen aufeinandertreffen lassen, die untereinander Lösungsmodelle zur sozialen Frage aushandeln. Das Urteilen sollte darin bestehen, Personen auszuwählen und dann eine Handlung zu erfinden, die zum einen das soziale Problem beleuchtet und gleichzeitig eine Lösungsrichtung zeigt. Die Aufgabe war, die Lösungswege aus der Zeit des 19. Jahrhunderts heraus zu denken.

Schwierig ist das, weil die Urteilskompetenz im Abstand der Zeit entwickelt werden muss. Die Lösungen müssen den alten Kontrahenten in den Mund gelegt werden, die Lösungs­wege können aber durchaus Richtungen zeigen, die in damaliger Zeit denkbar waren, aber nicht unbedingt gegangen worden sind. Hier waren Individualität und Phantasie gefragt. Die Schülerinnen und Schüler durften sich in selbstgewählte Gruppen aufteilen. Es fanden sich fünf Gruppen. In der größten waren sechs Jungen, ansonsten gab es Paargruppen.

Ich habe aus Platzgründen zwei Arbeiten ausgewählt, weil sie besonders gegensätzlich sind. Allerdings wären alle lesenswert.

Um die beiden ausgewählten Beispiele besser zu verstehen, muss noch gesagt werden, dass ein Gedicht (darum auch die Reimversion im ersten Beispiel) von Erich Mühsam mit dem Titel »Der Revoluzzer« eine wichtige Rolle in der Erarbeitung der Ausgangskonflikte spielte. Hier spottet ein Revolutionär über einen Sozialdemokraten, der zwar gerne eine gerechtere Welt will, aber die Revolution verabscheut, weil die Straßenlampen zu Bruch gehen. Er ist nämlich Lampenputzer von Beruf. Als man auf ihn nicht hört, schreibt er ein Buch »über das Revolutionieren!«

Wir haben auch über die Armut gesprochen, die Familien zwang, »Schlafgänger« bei sich aufzunehmen. »Pauperismus« nannten die Sozialwissenschaftler der damaligen Zeit den Prozess der zunehmenden Verarmung. Wir haben außer revolutionären auch andere Lösungswege verfolgt: Unternehmerverantwortung zum Beispiel, wie sie von Krupp und Siemens wahrgenommen wurde, und die aus heutiger Sicht wieder vorbildlich erscheint.

Die sechs Jungen thematisieren den revolutionären Weg:

Ohne Titel

Arbeiter:        

            Guten Tag Herr Revoluzzer, sind Sie

            vom Stand der Lampenputzer?

Revolutionär: 

            Ich grüße Sie, mein werter Herr,

            es ist mir wahrlich eine Ehr!

            Die Arbeit verficht ich auf den Gleisen,

            gewonnen aus dem deutschen Eisen.

            Wohnen tu ich nicht so wie Sie.

            Mein Bett vermieten muss ich nie!

A:        Dieser Umstand, nicht gerecht

            Ich bin des Deutschen Reiches Knecht!

            Der Lohn der Arbeit, der ist mau,

            versorgen muss ich Kind und Frau.

R:        Schließ Dich uns an und fordre mehr.

            Ansonsten bleibt Dein Magen leer.

            Es überwiegen Leid und Schmerz

            Durchstochen wird unser aller Herz.

A:        Die Massen haben verraten das Proletariat.

            Sie haben das Land beladen

            mit Mauern und mit Stacheldraht.

R:        So ist es, mein Bruder, Du hast es erfasst.

            Und trotzdem wird unsereiner hier gehasst.

            Lasst uns die Waffen erheben,

            beenden die Qual,

            Auch wenn das Blut wird kleben

            an unseres Schwertes Stahl.

A:        Wieso sollt ich’s riskieren,

            mein einz’ges Hab und Gut?

            Es droht, alles zu verlieren

            obwohl’s nicht fehlt an Mut.

            Dennoch will ich’s wagen,

            das System zu hinterfragen!

R:        Wir müssen uns nun wehren

            und das Bürgertum belehren.

            Hier sind die Revoluzzer nütze

            auf dass sie vorm Tyrannen schützen.

            Apropos der Tyrannei:

            Hast Du zuhause etwas Brei?

            Die Reichen damit zu bewerfen,

            Das dürfte den Konflikt verschärfen!

Janis, Yannic, Elias, Jonathan, Lukas, Felix

Das folgende Beispiel der beiden Mädchen greift die Unternehmerinitiativen auf und antizipiert eine erste Begegnung zwischen Arbeiter und Unternehmer.

»Das schale Bier«

(Schichtsirene. Graue Masse strömt aus dem eisernen Tor und verteilt sich. Mit schlurfenden Schritten bewegt ein

Arbeiter sich müde in seine Eckkneipe. Die Hände stecken tief in den Hosentaschen, seine Hand spielt nervös mit der Münze.

Ein Schwall von Wärme und Gesprächsfetzen kommt ihm entgegen. Er quetscht sich auf den letzten freien Platz an der Bar. Er weiß es nicht, aber am Tresen sitzt auch einer der leitenden Unternehmer des Werks.)

 

Kellner:          

            (Setzt Bier ab.) N’Abend. (murmelnd)

Unternehmer:

            Wie war die Arbeit?

Arbeiter: (verdutzt) Krupp eben. (Blick auf volles Bier gerichtet.)

U:        (schnell) Natürlich!

            Hart wie Kruppstahl so ein Tag.

A:        (Hebt den Blick, schaut den Nachbarn an,

            schaut auf das Bier, seine sauberen Hände

            fallen ihm ins Auge, sieht auf seinen

            Notizblock neben dem Bier.)

            Hab se noch nie gese’hn.

            (Steht auf, geht ohne sein Bier

            zum Billardtisch.)

U:        (Geht mit Bier hinterher.) Ihr Bier!

            (Stille. Lächelt.) Endlich wieder Frühling.

            Naja, jetzt ruft die Gartenarbeit.

A:        (Verdattert, perplex, stellt Bier weg, schaut

            ihm ins Gesicht.) Was machen se hier?

            Bin ’n ehrlicher Mann.

            Hab noch nie ’n Bier nicht bezahlt!

U:        Verzeihen Sie vielmals.

            (Schritt auf Arbeiter zu.)

A:        (Schreckt zurück, sieht die blitzende Uhr.)

U:        Es war keineswegs meine Absicht, Sie zu

            verunsichern. Schauen Sie hier: (Öffnet sein

            Notizbuch.) All die Diskrepanzen unserer

            heutigen Gesellschaft, der Pauperismus der

            Arbeiter ist verantwortlich für die Aporie der

            derzeitigen Sozialen Frage …

A:        (schreit) Der spioniert! (Zeigt auf den

            Unternehmer, Tumult bricht aus, der Unter-

            nehmer wird gepackt, unter Gegröle heraus-

            gezerrt. Währenddessen:)

U:        Denken Sie an Ihre Familie! An die Kälte, an

            den Hunger! Ich möchte helfen.

            Ich schreibe einen Bericht.

A:        (Sitzt vor seinem Bier, schaut hin,

            der Schaum ist weg.)

            Jetzt bezahl’ ich für ein schales Bier.

            (Bier leer, stellt es hin. Stutzt, rennt plötzlich los.)

            Halt. Warten ‘se. Es soll sich ‘was ändern!

Emilia, Viktoria

Die Schülerin sagt nach der Fertigstellung verblüfft in die Klasse: »Jetzt weiß ich, wie ein Arbeiter dachte!«

In diesen szenischen Setzungen liegt Urteilskraft. Die Unterschiedlichkeit der Lösungen zeigt, wie individuell und wie phantasievoll die Zugriffe sein können – und auch waren. Historisch kompetent ist in beiden Dramoletten die Wahl des Sprachgestus und die klar konturierte Interessenlage im ersten und die schichtspezifischen Gegensätze im zweiten Beispiel. Ich war nach diesem Experiment davon überzeugt, das diese Ergebnisse den Ausfall der Überblicks-Epoche völlig kompensiert haben.

Ich ziehe für mich das Resümee: Mit der inneren Haltung, die die menschenkundliche Situation der Klassenstufe immer im Bewusstsein hat, kann es gelingen, auch ohne wichtige traditionelle Inhalte waldorfspezifisch zu unterrichten.

Dafür gibt es keine Nachschlagewerke und auch keine Epochen aus der Schublade, diese Haltung muss ich mir erarbeiten. Habe ich diese Frage-Haltung, kommen auch die Ideen, die weiterhelfen. Allerdings – auf diese Haltung kommt es an!

Zum Autor: Thomas Lutze-Rodenbusch ist seit 1983 Oberstufenlehrer für Geschichte, Deutsch und Religion in der Krefelder Waldorfschule und Mitglied im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen.