Klassenzimmer

Auf zu neuen Ufern! Ein Lehrplanprojekt in Klasse sieben

Petra Mühlenbrock

Gedacht – Getan. Ich wählte die Epochen Erdkunde, Geschichte und Deutsch in meiner siebten Klasse und entwarf ein Konzept, sie als größeres, thematisch miteinander verwobenes Projekt bis Weihnachten stattfinden zu lassen.

1. Phase: Erdkunde. Alles hängt irgendwie zusammen ...

Wir begannen mit einer Gruppenarbeit zu den Kontinenten, wobei ich uns Asien für das nächste Schuljahr aufsparte. Zunächst besprachen wir, welche Themenkomplexe nötig sind, um etwas über ein Land zu erfahren. So entstand ein Arbeitsblatt mit eigenen Schwerpunkten wie beispielsweise Klima, Tiere, Landschaft oder Menschen. Eine Siebtklässlerin formulierte bei der Bearbeitung irgendwann eine zentrale Erkenntnis: »Alles hängt irgendwie zusammen: Das Wetter mit der Landschaft, die Landschaft mit den Tieren und den Menschen …«

An den Gruppentischen wurde eifrig recherchiert, Informationen wurden ausgetauscht, Bilder und Fotos gesammelt. Aufgabe war zunächst, ein gemeinsames großes Plakat des »eigenen« Kontinents zu gestalten. Die Informationen zu den erarbeiteten Schwerpunkten formulierten die Schüler:innen zusammen aus und notierten sie als Text mit Illustrationen in einem gemeinsam erstellten Ordner, dessen ordentliche, korrekt geschriebene und farbliche Gestaltung ebenfalls als Gemeinschaftsarbeit betrachtet und bewertet wurde. So rundete sich allmählich der erste Teil des Projekts.

2. Phase: Zu Hause Entdecker, im Unterricht Gold

Wir begannen nun mit Jakob Wassermanns Novelle »Das Gold von Caxamalca«. Verschiedene Aufsatzformen, die in diesem Zusammenhang geübt werden sollten, entstanden während des Unterrichts. Zuvor hatte ich elf »Ent­decker« unter den Kindern mitsamt Büchern und Material verteilt. Das Material sollte zu Hause gelesen und in Stadtbüchereien ergänzt werden. Jeweils drei Kinder beschäftigten sich zunächst unabhängig voneinander mit demselben Entdecker und erstellten nach und nach zu Hause einen möglichst ausführlichen tabellarischen Lebenslauf. Zu Beginn jeden Tages wurde kurz über den aktuellen Stand der Dinge berichtet.

Die goldene Schildkröte trinkt Blut!

Im Unterricht lasen wir derweil über das spanische Völk, das unter der Führung von General Pizarro den Inka Atahualpa inhaftieren, ihn durch einen Raum voller Gold auslösen und später dennoch – das gegebene Versprechen brechend – auf grausame Weise hinrichten ließen. Die Gier nach Gold und die Unmenschlichkeit europäischen Völker, die die sogenannten »Wilden« christianisieren wollten und dabei so schrecklich unchristlich behandelten, bildeten hier den inhaltlichen Schwerpunkt. Nach und nach entstanden im Unterricht wunderbare »Zeitungsartikel« und Erlebnisberichte. Eine der eindrucksvollsten Metaphern der Novelle findet im folgenden Aufsatz von Enno ihr Echo.

Die Goldene Schildkröte trinkt Blut

Am gestrigen Abend gab es einen blutigen Kampf um eine Goldene Schildkröte, in den zwei Soldaten verwickelt waren. Ich will euch davon berichten:

Der Abend brach herein und die letzten Sonnenstrahlen schienen ins Lager der Spanier. Durch das schwüle Wetter herrschte bedrückte und gereizte Stimmung. Das Heer von Don Almagro traf in Caxamalca ein, denn sie hatten von dem goldglänzenden Metall gehört. Don Almagros Heer wollte auch einen Anteil, doch Pizarro wollte vor lauter Gier nichts abgeben. Plötzlich durchbrach ein Schrei die hitzigen Gespräche. Ein Kampf. Einer von uns gegen einen von Almagros Leuten. Sie standen sich mit blutbespritzten Schwertern gegenüber, von Schweiß überströmt. Wieder gingen sie aufeinander los und ich versichere euch, den Todesschrei unseres Soldaten Jacopo Cuellar wollt ihr nicht gehört haben. Er sank zuckend und blutüberströmt zu Boden, eine Schildkröte in seiner blutigen Hand. Atahualpa, der das Geschehen mit düsterem, verständnislosem Blick beobachtet hatte, sagte leise: »Die Goldene Schildkröte trinkt Blut.« Es war ein furchtbares Ereignis. (Originalfassung, unkorrigiert).

Unterdessen waren die Bücher und Biographien zu den jeweiligen Entdeckern gesammelt, gelesen und geschrieben. Der zweite Projekt-Abschnitt endete damit, dass wir als Zeitreisende Caxamalca besuchten und es nach heutigen Maßstäben betreffend der Menschenrechte betrachteten.

3. Phase: Auf zu neuen Ufern!

Es folgte Abschnitt drei des Projekts: eine Bearbeitung der Forscher-Biographien. Die jeweiligen Dreiergruppen tauschten sich aus und schrieben gemeinsam Lebensläufe in Ich-Form. Danach galt es, drei Ereignisse aus den Biographien herauszugreifen und aus der Perspektive des Ent­deckers drei Geschichten zu erzählen. Unglaublich, wie sich die Siebtklässler:innen in ihre Person eingefühlt und atemberaubende Erlebnisberichte verfasst haben! Atmosphärisch dichte Abenteuer entstanden, bei denen die Stürme am Kap oder die beißende Kälte der Antarktis zu spüren waren oder wir mit James Cook und David Livingstone litten.

Zudem wurden Porträts der Entdecker gezeichnet, die nun mit den Plakaten der Kontinente den Klassenraum schmückten. Die Routen der Entdecker wurden nicht nur ins Heft übertragen, sondern auch in größerem Format auf einem zusätzlichen Blatt an die Wand gehängt: Das Projekt wuchs, und der Klassenraum verwandelte sich ganz allmählich in eine Art buntes Forschungsschiff!

Alle lasen sich ihre Geschichten gegenseitig vor, tauchten in die Abenteuer ein und übten im Anschluss erstaunlich konstruktive Kritik. So rundete sich der dritte Abschnitt des Projekts.

Nun frischte ich noch einmal die Erinnerung an die Kontinente auf und ließ in den Gruppen »Handouts« erstellen. Sie wurden nach und nach an die anderen zum Abheften in eine Kontinente-Mappe verteilt. Die Stichpunkte konnten später bei den Vorträgen von den Schüler:innen ergänzt werden.

Das »Finale grande«: Alles greift ineinander

Es folgte der letzte Akt: Heinrich der Seefahrer gründete seine Seefahrerschule und schickte Vasco da Gama und Gil Eanes auf große Fahrt. Nach der Entdeckung Afrikas mit den entsprechenden, selbst verfassten Abenteuergeschichten folgte die Darstellung Afrikas in Vorträgen.

Danach durften wir von Livingstone etwas über die Victoria-Fälle und seine Suche nach den Quellen des Nils er­fahren. So schloss sich für die Schüler:innen der afrikanische Kreis.

Die Rezitation der »Conquistadores« von Conrad Ferdinand Meyer aus dem Anfangsteil des Unterrichts hatte den Boden für Kolumbus bereitet – für seinen Lebenslauf und die (Wieder-)Entdeckung des amerikanischen Kontinents. Im Anschluss wurde der Kontinent von der Nordamerika-Gruppe vorgestellt. Und so ging es immer weiter: Auf die Biographie eines Entdeckers und die dazugehörigen Erlebnisberichte folgte stets die Darstellung des entdeckten Kontinents. Allmählich verwoben sich die Inhalte, illustriert von vielen Plakaten, Porträts und Routen an den Wänden des Klassenzimmers. Südamerika erhielt eine besonders atmosphärische Dichte durch das erneute Vorlesen einiger Aufsätze aus der Caxamalca-Epoche. Nach James Cook und Australien beendete schluss­endlich Charles Darwin den Reigen als ein Ent­decker anderer Art(en).

Epilog: Eine neue Welt!

Die Corona-Auflagen vom Dezember verhinderten einen langen Vortragsnachmittag mit Eltern bei Holunder­punsch und Keksen. So machten wir aus der Not eine Tugend und entdeckten die Welt des Filmens: Ein Elternteil nahm alle Beiträge mit der Kamera auf! Vorab hatten wir in der Klasse dazu Verschiedenes besprochen wie z.B.: Wie kann der zeitliche und thematische Ablauf aussehen? Wie wechseln wir uns innerhalb der Vorträge ab? In welchem Tempo sollen wir sprechen? Wer zeigt, wer redet? Wie stehe ich vor der Kamera?

Wohin schaue ich … Wahrlich eine neue Welt! Und nebenbei entstand auf diese Weise eine schöne Weihnachts­überraschung!

Mein Fazit zum Lehrplan

Nach Abschluss des Projekts finde ich den horizontalen Lehrplan noch genialer als zuvor. Die vergangenen Monate haben mir eindrucksvoll vor Augen geführt, wie eng die Lerninhalte des Schuljahres miteinander verknüpft sind, einander unmittelbar ergänzen und vertiefen. Dass sie auch altersgemäß sind, bewiesen die Schüler:innen mit ihrem Interesse und Engagement. Und ihre Ergebnisse konnten sich wahrlich sehen lassen! Den Unterricht einer Waldorfschule zeichnet aus, dass sich die Schüler;innen zunächst für den Lerninhalt »erwärmen«  sollen, anschließend ins »Tun« kommen, um erst im nächsten Schritt, vorzugsweise am folgenden Tag, das Ganze gedanklich zu durchdringen. In der oberen Mittelstufe besteht eine Aufgabe der Lehrer:innen darin, bei der Unterrichtsvorbereitung den Schwerpunkt von der Begeisterung allmählich in Richtung »gedankliche Auseinandersetzung« zu verlagern. Das sollte aber ganz langsam geschehen, denn bis zur sogenannten Urteilsbildung in der Oberstufe sind es schließlich noch satte zwei Jahre. Das geschilderte Projekt erscheint mir auch im Rückblick sehr gut dafür geeignet gewesen zu sein. Eigenständiges Recherchieren, Austausch in der Gruppe, Kritik und Aussortieren von überflüssigen Informationen, Erstellen von Sachtexten einerseits – andererseits sich emotional mit der Entdecker-Persönlichkeit oder auch den Kontinenten in Bildern, Aufsätzen und Biographien verbinden – schließlich die Zusammenhänge der Unterrichtsinhalte begreifen, bis hin zur Auseinandersetzung mit den teilweise schrecklichen Folgen einer Eroberung wie beim Volk der Inka: Da kamen immer wieder »Denken, Fühlen und Wollen« zum Tragen mit dem im siebten Schuljahr größeren Gewicht auf der emotionalen und tatkräftigen Verbindung mit dem Lerninhalt. Dass die Schüler:innen sich auch noch als Erwachsene mit Wärme, Begeisterung und Sachkenntnis an dieses Projekt erinnern können – das ist mein persönliches Lernziel.

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