Aufgang und Abgang müssen stimmen

Anna-Clara Bachmann

Applaus. Langsam tritt unser Lehrer vor und beginnt, das Programm einzuleiten. Die Unruhe im Saal legt sich und nun schallt seine Stimme durch den Raum. Sonate in A-Dur von Franz Schubert. Oft haben wir diese Ansage schon gehört und langsam wird einem bewusst, dass dies das letzte Mal ist, die letzte Atempause vor unserem Auftritt. Die Hände schwitzen ein wenig und man hört das leise Knarren der über den Holzboden huschenden Füße, um sich bereit zu machen für den Aufgang. Gebannt blicken wir zwischen den großen dunkelblauen Vorhängen hindurch. Stehen die anderen schon bereit?

Ein halbes Jahr proben wir nun schon an dem Stück. Lang genug, damit jede Bewegung, jeder Ton sitzt. Ziemlich lang, wenn man bedenkt, dass es in fünfzehn Minuten schon wieder vorbei sein wird. Das Stichwort fällt. Es geht los.

Alle halten den Körper aufrecht und mit leicht gehobenen Armen betreten wir die Bühne. Nun beginnt das Herz doch zu pochen. Die Scheinwerfer blenden und strahlen heiß ins Gesicht. Jetzt heißt es Konzentration. Die ersten Töne der Schubert-Sonate erklingen, und wie auf Kommando beginnen wir. Aber was tun wir da eigentlich auf einer Bühne mitten in Nordrhein-Westfahlen?

Im Bus ist gute Stimmung. Wir sind nun schon ganz in der Nähe von Witten-Annen und warten nur noch auf die Autobahnausfahrt. Von Dresden aus mit der ganzen Klasse 10 B zum Internationalen Eurythmiefestival zu fahren, um dort die Schubert-Sonate aufzuführen – das ist unser Ziel. »Die nächste Ausfahrt geht’s raus, seht ihr dieses waldorfmäßige, anthroposophische Gebäude dort am Rande des Hanges?«, fragt unser Eurythmielehrer Andreas Kern, mit dem wir am Projekt arbeiten. »Da werdet ihr für die nächsten vier Nächte schlafen.« Ein Lachen geht durch den Bus. Wir Waldorfschüler scherzen gern über uns und unsere Schule. Die Frage, ob wir unseren Namen tanzen können, hat jeder von uns schon einmal gestellt bekommen. Und ja, wir können es. Die im frühen 20. Jahrhundert entwickelte Kunst, Sprache und Ton als Bewegung in den Raum zu bringen, wird an nahezu jeder Waldorfschule gelehrt.

Nun bremst der Bus. Wir sind da. Alle strömen hinaus an die frische Luft. Es ist warm und die Sonne strahlt heiß auf die Köpfe. Vor uns steht ein großes Gebäude, die Blote-Vogel-Schule, und verschiedene Leute tänzeln schon herum, grüßen und verbreiten gute Laune und verteilen Essen. Hier und dort hört man die verschiedensten Sprachen, von Russisch bis Spanisch oder Niederländisch.

Uns wird erklärt, dass hier die Aufführungen stattfinden werden. Nachdem wir unsere Koffer endlich zum anderen Ende des Geländes getragen haben, sehen wir drei weitere Gebäude. Daneben steht ein Schild: Institut für Waldorfpädagogik Witten-Annen. Eine riesige Aufschrift kündigt uns an, auf welchem Festival wir uns hier befinden.

Brasilianische Tänze und Improvisation

Nach einer ersten Orientierung wird das von allen erwartete Signal für die Aufteilung der Zimmer gegeben. Zwei verschiedene Räume gibt es, in denen unsere Klasse ihre Lager aufschlagen darf. Es riecht nach Holzboden, in jedem Raum steht ein Klavier und eine Tafel hängt an der Wand. Ab diesem Zeitpunkt sind wir uns sicher, dass ab jetzt immer irgendwo Musik zu hören sein wird. Und siehe da, sofort beginnt jemand, im Foyer Beethovens Mondscheinsonate zu spielen.

Die Isomatten sind aufgeschlagen, die Mädchen haben sich umgezogen. Nach einer kleinen einleitenden Ansprache unseres Lehrers schwärmen wir alle aus, um die Nase in alles Mögliche reinzustecken. Schon nach drei Minuten bildet sich eine Traube um einen Ort auf dem Gelände. Es ist eine große Wand mit Zetteln, die mit verschiedenen Themen beschrieben sind: die Workshops. Verschiedenste Sachen wie brasilianische Tänze oder Improvisation stehen zur Auswahl. Man kann sich einschreiben, doch es gibt so viele Angebote, dass es schwerfällt, eine Wahl zu treffen.

Uns wurde aufgetragen, mindestens zwei Blöcke mit Aufführungen am Tag zu besuchen, also machten sich manche schon auf den Weg, um hoch zur Schule zu laufen und sich die besten Plätze für die ersten Darbietungen zu sichern. Hinter dem Eingang sorgt ein schwerer schwarzer Vorhang für Ruhe. Und nun erblicken wir den Saal in voller Größe. Geschätzt um die 600 Leute finden hier Platz. Von der Empore aus ist die Sicht fabelhaft. Es ist noch laut im Saal. Alle reden munter über dies und jenes, wie das Festival wohl werden wird, treffen alte Bekannte. Wir blicken von oben auf das bunte Treiben herab und warten darauf, dass es losgeht. Das Licht wird gedimmt und auf die Bühne tritt eine junge Frau, begrüßt uns alle herzlich und leitet das Programm ein. Applaus ertönt und schon erklingt neben der Bühne ein Klavier.

Alle sind gespannt, die Erwartungen sind hoch, denn hier treten nur Menschen auf, die lange dafür gearbeitet haben. Die zwölfte Klasse der Blote Vogel Schule beginnt. »Wenn Aufgang und Abgang nicht stimmen, ist das ganze Stück im Eimer«, so unser Eurythmielehrer. Es folgt ein langer Auftritt. Ein Schüler trägt eine goldene Uhr, was ziemlich ablenkt. Danach wird gefachsimpelt: »Hast du gesehen, die Aufgänge waren gar nicht gut, die sind einfach ganz laut auf die Bühne getrampelt.« Alles, was diese Gruppe versäumte, wollten wir nun doppelt so gut machen. Tatsächlich haben wir dadurch auch viele Fehler an uns entdecken und korrigieren können. Wir treten aus dem stickigen Saal wieder hinaus ins Freie. Inzwischen sind alle schon ziemlich hungrig geworden.

Bis nachts um drei Musik

Das Essen ist für uns Dresdner Waldorfschüler ebenfalls auf dem Institutsgelände. Als wir dort eintreffen, riecht es sehr exotisch, einerseits nach Pizza, andererseits nach etwas, das schwer einzuordnen ist. Ein Blick auf die Teller bringt Licht ins Dunkel: Polenta-Pizza. Nicht gerade unser Lieblingsgericht, doch der Hunger siegt. Dann ziehen wir uns erst mal auf unsere Zimmer zurück. Doch ganz so entspannt läuft es dann doch nicht ab, denn jetzt fängt der Spaß erst an, und zwar mit dem Abendprogramm: Von draußen tönt durch die geöffneten Fenster Musik. Sei es Gitarre, verschiedenste Klavierklänge oder sogar eine Tribüne mitsamt Band obendrauf.

Dann wird es heiter. 

Schon bald versammelt sich eine Schar unterschiedlichster Menschen von fern und nah. Alle wollen sie tanzen, feiern, lachen. Steht man einmal in der Menge, kommt man nicht mehr so leicht fort. Lukas aus Hamburg, den wir an einem Abend kennenlernten, spielt mit einem Feuerstab, seine Lieblingsbeschäftigung. Man kann beobachten, wie sich alle trotz der Sprachbarriere verstehen.

Für die, die nach ein Uhr immer noch nicht genug vom Tanzen haben, gibt es noch ein Nachtcafé. In einem idyllisch gestalteten Raum mit Kerzen und Kissen wird noch bis drei Musik gespielt und gelacht. Eis, Süßigkeiten und ein angenehmer Duft verbreiten das Gefühl von Wohlbehagen. Irgendwann jedoch muss auch der letzte Tänzer sein Bett aufsuchen, denn die nächsten Tage werden genauso gefüllt sein.

Die Stunde der Wahrheit

Langsam aber sicher sind wir nun an dem Tag angelangt, an dem unser großer Moment kommt. Wir werden unser Programm aufführen und repräsentieren damit auch unsere Schule. Alle Kleider und Schleier müssen hinter die Bühne getragen werden, alle gebügelt, Haare und Make-up gemacht werden. Die Vorbereitungen laufen wie wild. Hinter der Schule ist ein kleines Rondell, das jetzt gerade zur Friseurstube umfunktioniert wird. Alle sitzen im Kreis und jeder flicht jedem die Haare: ein schlichter Franzosenzopf, so fallen sie nicht ins Gesicht. Alles sieht einheitlich aus und stört nicht. Bei den Jungs löst das den ein oder anderen Lacher aus. Unser Lehrer ermahnt uns, gibt letzte Anweisungen und probt einzelne Stellen nochmal durch. Ein strahlenderes Dur hier, eine schärfere Dissonanz da. Er dreht sich zur begleitenden Eurythmielehrerin um. »Letzte Anmerkungen?« Sie schüttelt den Kopf. Nun beginnt die Stunde der Wahrheit, denn die letzten Vorbereitungen sind gelaufen, so langsam nähern wir uns dem Ende.

Wir sind wieder beim Anfang angelangt, dort, wo sich der Vorhang öffnet. Die Choreografie ist fast wie eingebrannt im Kopf. Jeder Schritt, jede Bewegung sitzt und dennoch wirkt es frei, ungezwungen, aber auch vergänglich. Die Bühne wird zu einer Welt, in der nur Musik und Ausdruck eine Rolle spielen.

So versunken in dieser Welt man auch ist, bei den gewaltigen Schlussakkorden holt es einen in die Realität zurück. Die Anspannung fällt. Wir haben es tatsächlich geschafft. Kein Fauxpas, keine Zusammenstöße, kein Stolperer.

Der Applaus rauscht, gemischt mit dem Blut, wie Regen in den Ohren. Eine zweite Verbeugung. Umarmungen hinter der Bühne. Die dritte Verbeugung. Aus den Augenwinkeln, noch überblendet von den Scheinwerfern, kann man undeutlich sehen, dass ein paar Leute stehend ihren Applaus und ihre Anerkennung zollen. Langsam und noch benommen verlassen wir die Bühne. Die Gespräche beginnen wieder. Gesichter, in denen sich Erleichterung und Freude zeigt, blicken einem entgegen. Von rechts und links kommen uns Glückwünsche entgegen. Die Klasse 10 B hat es geschafft. Wir haben dieses Projekt auf die Beine gestellt, es geplant und verwirklicht.

Zu der Autorin: Anna-Clara Bachmann besucht die zehnte Klasse der Freien Waldorfschule Dresden; der Text entstand unter Mitarbeit ihrer Klassenkameraden Jooris Spirling, Leona Hegewald und Ferdinand Kuno.

Das nächste Forum Eurythmie in Witten-Annen findet vom 29.5.–2.6.2019 statt