Aufnehmen – vergessen – erinnern

Sven Saar

Von Anfang an ist es in der Waldorfschule üblich, Hauptfächer in Epochen zu unterrichten und sie dann für eine Weile ruhen zu lassen, anstatt sie stundenweise über das Schuljahr zu verteilen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass das, was wir vergessen, verwandelt und gestärkt zu uns zurückkehrt. Wir kennen das: »Da muss ich drüber schlafen!« Die Nacht bewirkt Vertiefung, sie löst miteinander verwobene Erlebnisse und verbindet sie aufs Neue. Diesen Rhythmus kann man auch zeitlich ausdehnen. Das klappt nicht für alle Fächer gleichermaßen – Mathematik und Fremdsprachen muss man regelmäßig üben –, ist aber für Vieles erstaunlich effektiv.

Was in den Tiefen des schlafenden Willens versunken ist, lässt sich nicht direkt wieder aufrufen. Das ist vor allem für Lehrer und Eltern von zerstreuten Kindern wichtig: Vernunftappelle an das Kind – »Du musst dich anstrengen, dir die Dinge besser zu merken, sonst vergeigst du die Klassenarbeit!« – kann man sich völlig sparen – sie bewirken überhaupt nichts. Gibt man aber ein inspirierendes Bild, oder erweckt man die fragende Neugier des Kindes, ist alles schnell wieder da!

Vorausgesetzt natürlich, es ist schon einmal aufgenommen worden: Wir merken uns eigentlich nur, was uns interessiert. Niemand hat je vergessen, dass er Kinder hat, wer sein bester Freund war oder wo es auf der Hochzeitsreise hinging. Lernt man etwas ausschließlich für eine Prüfung, ist es danach sofort wieder weg.

Interesse für den Unterrichtsstoff schaffe ich beim Kind vor allem, indem ich es auf möglichst differenzierte Weise anspreche. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen und will Eindrücke nicht nur über Ohr oder Auge erfahren. Wie Steiner in diesem Vortrag ausführt, haben wir zwölf Sinne, sieben mehr als verbreitet angenommen. Da ist zum Beispiel der Lebenssinn, der uns vermittelt, ob es uns gut geht: Er gibt uns nicht direkte Sinneseindrücke, sondern sondiert das Selbstgefühl. Durch ihn wissen wir, ob wir uns stark oder schwach, stabil oder unsicher, fröstelnd oder überhitzt fühlen. Er ist subjektiver als der Wärme- oder der Tastsinn, die zwar Eindrücke von außen registrieren, sie aber nicht in unser Empfinden übersetzen können. Mehr nach außen gerichtet ist der Eigenbewegungssinn: Durch ihn merken wir, ob wir uns schnell oder langsam durch die Welt bewegen. Der Sprachsinn erlaubt uns, über das Verstehen hinaus, »zwischen den Zeilen zu lesen«, und durch den Ich-Sinn erspüren wir die Intentionen anderer Menschen. Wir wissen zum Beispiel durch die Art, wie sie sprechen, ob sie guter oder schlechter Laune sind. Wenn wir Kindern beibringen, achtsam miteinander umzugehen, regen wir sie an, ihren Ich-Sinn zu gebrauchen. Das kann man nicht gut erklären – schließlich ist »achtsam sein« nicht gerade eine klare Anweisung, und doch spüren gesunde Kinder, was wir von ihnen erwarten.

Als Lehrer achten wir darauf, dass unser Unterricht zusammenhängt, Sinn macht, gesundend wirkt. Im Kind sollen die Inhalte auf möglichst vielschichtige Weise ankommen: Je mehr Sinne wir durch unsere Arbeit ansprechen, desto leichter fällt es den Schülern, alles durch innere Synthese harmonisch zusammenzusetzen, es loslassend zu vergessen und bei Gelegenheit neu zu erinnern.