Augenblicke der Menschlichkeit

Bernd Ruf

Fluchttraumata

Flucht stellt immer einen Bruch in der Lebensgeschichte dar. In der Vorfluchtphase befindet sich der Betroffene noch im Herkunftsland. Er erlebt massive Gewalt, existenzielle Bedrohung, Armut und Perspektivlosigkeit sowie Verfolgung aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen. Die aktive Fluchtphase beginnt mit dem Verlassen des Heimatortes. Vor allem Kinder und Jugendliche sind in dieser Zeit vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Mit der Ankunft im Zielland ist der Fluchtprozess aber noch keineswegs abgeschlossen. So bleibt die Frage des rechtlichen Status des Flüchtlings meist für längere Zeit offen. Dies verunmöglicht ein Ankommen an einem sicheren Ort. Die meisten minderjährigen Flüchtlingskinder erleben einen Kulturschock, der zu einer tiefen Verunsicherung und Sprachlosigkeit führt.

Traumatische Belastungsreaktionen treten oft erst in der Nachfluchtphase auf. Die Ankunft in Europa bedeutet für minderjährige Flüchtlinge nicht das Ende der Traumatisierung, sondern dass die Folgestörungen anhalten und die schmerzlichste Phase des Verarbeitungsprozesses erst beginnt. Weltweit helfen die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners in notfallpädagogischen Kriseninterventionen minderjährigen Flüchtlingen bei der Verarbeitung ihrer extremen Stresserfahrung und bereiten lokale pädagogische Mitarbeiter auf den Umgang mit traumatischen Verhaltensreaktionen von Kindern und Jugendlichen vor.

Menschliches Strandgut auf Lesbos

Die Strände der griechischen Insel Lesbos sind mit den Überresten tausender Boote und zehntausender signalroter Schwimmwesten übersät. Noch im Spätherbst 2015 erreichten täglich über 100 Schlauchboote mit etwa 7.000 Flüchtlingen die Küsten der Insel. Bis zum Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei ertranken allein in diesem Jahr bereits 2.000 Menschen. Jedes Boot, das die Küste erreicht, hat Tragödien zu vermelden: Ein fünfjähriges Mädchen weint verzweifelt über den Tod ihrer Mutter; eine Mutter mit einem fünf Monate alten Säugling trauert um den Verlust ihres Zwillingskindes. Viele sind dem körperlichen und psychischen Zusammenbruch nahe. Andere nehmen an, sie hätten das Schlimmste überstanden. Sie ahnen nicht, was sie noch erwarten wird.

Die Flüchtlinge irren durch die gebirgige Insel. Alle sind auf der Suche nach den Hot Spots, den von der Europäischen Union errichteten Registrierungscamps Kara Tepe und Moria. Tausende warten dort in endlosen Kolonnen oft tagelang auf ihre Aufnahme. Im strömenden Regen drohen sie, in Müll und Morast zu versinken.

Infektionskrankheiten breiten sich aus. Fast täglich entladen sich die unmenschlichen Bedingungen in schweren Tumulten zwischen ethnischen Gruppen. Mit Schlagstöcken und Tränengas versuchen Polizeikräfte, das Ausmaß der Gewalt einzugrenzen und einen Rest an äußerer Ordnung aufrechtzuerhalten.

Im Moria-Camp sind etwa 60 syrische und 30 afghanische unbegleitete Kinder und Jugendliche in zwei getrennten Lagerabschnitten untergebracht. Sich selbst überlassen, werden sie am Rande des Existenzminimums von zwei Polizisten versorgt. Die Wohncontainer der Kinder sind mit Gittern und Nato-Stacheldraht mehrfach gesichert. Alles erinnert eher an eine Strafkolonie als an eine europäische Einrichtung zur Kinder- und Jugendfürsorge.

Im Kinderlager herrscht Verzweiflung, Aggressivität und Angst. Viele Kinder und Jugendlichen rotten sich immer wieder zusammen, ziehen schreiend durch ihren Lagerabschnitt, zerstören Tische, Stühle und Betten und zerreißen Bettüberzüge und ihre Kleidungsstücke. Andere sitzen weinend am Boden oder liegen depressiv auf ihren Betten. Selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche sind an der Tagesordnung.

Wir helfen durch notfallpädagogische Interventionen, indem wir traumatisierte Kinder stabilisieren. In Akutinterventionen können Flashbacks unterbrochen oder Panikattacken gemildert werden. Traumatische Verkrampfungen können durch Massagen und Einreibungen gelöst werden. Eurythmie, Bewegungsspiele, Sport oder Spaziergänge wirken der inneren Lähmung entgegen. Wir machen rhythmische Übungen, bemühen uns um einen regelmäßigen Tagesablauf. Rituale geben neuen Halt, Orientierung und Sicherheit. Da viele traumatisierte Kinder nicht sprechen, kommunizieren wir nonverbal: Wir malen, zeichnen, machen Musik und tanzen. Dadurch, dass die Kinder wieder in Tätigkeit kommen, helfen wir ihnen, ihre Ohnmachtserfahrungen zu überwinden und wieder zuversichtlich zu werden. Der Camp-Manager von Moria, ein griechischer Polizeioffizier, hat dies erkannt: »Bitte bleibt! Wir brauchen Euch!«

Augenblicke der Menschlichkeit inmitten des Chaos

Arisha ist sieben Jahre alt. Sie steht verängstigt und panisch, von ihrer Familie getrennt, inmitten des Flüchtlingschaos alleine im Niemandsland zwischen Slowenien und Österreich. Nach langem Suchen gelingt es, den Vater jenseits einer Kette von Soldaten des österreichischen Bundesheeres auszumachen. Der Versuch, das Mädchen seinem Vater zuzuführen, bringt uns fast die Schläge eines völlig überforderten Soldaten ein, der in der Familienzusammenführung eine Destabilisierung der öffentlichen Ordnung vermutet.

Erst unter Hinzuziehung des verantwortlichen Abschnittleiters können wir Arisha ihrem Vater übergeben. Von Ferne kann man sehen, wie er dankbar die Hände faltet und sich tief verbeugt. Auch in den Augen Arishas leuchtet Dankbarkeit auf. Es sind unvergessliche Augenblicke der Menschlichkeit.

Zum Autor: Bernd Ruf ist Vorstandsmitglied der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. und Leiter der Parzival Schule in Karlsruhe. Für seine Arbeit erhielt er den European Dialogue Silver Award.

Spendenkonto: IBAN: DE 47 430 609 670 013 042 010, Kennwort: »Notfallpädagogik«