Afghanisches Blutgeld in Köln

Aslı Güleryuz-Molin

Das Theaterspiel der 12. Klasse hat eine herausragende Bedeutung an der Waldorfschule. An der Michaeli Schule in Köln, einer Waldorfschule mit inklusivem Unterricht, hat das Spiel dieses Schuljahres aber noch eine zusätzliche Bedeutung, eine historische nämlich: Es ist das erste 12.-Klassspiel dieser zwölf Jahre jungen Schule. Vierzehn Schülerinnen und Schüler machten sich auf die Suche nach einem geeigneten Stück. Die Klassenbetreuerin Silvia Loskamp erinnert sich: »Ein klassisches Stück kam nicht in Frage. Stücke, die meine Kollegin Philippa Bertram und ich vorgeschlagen haben, hat die Klasse abgelehnt«. Dominik van Nes Ziegler (18) beschreibt, wie es dann für ihn und seine Mitschüler weiterging: »Wir haben in Bibliotheken gesucht und verschiedene Texte gefunden. Wir wollten ein Stück, das noch nicht so bekannt war. Und dann hat unsere Klassenkameradin Annabelle Heyden im Internet eine interessante Leseprobe gefunden. Sie war gleichzeitig sehr interessant und brisant, aber auch schwierig zu verstehen und zu spielen. Doch genau das hat uns gereizt und, dass es sich um ein hochaktuelles Thema handelte«. Die Klasse entschied sich für das Stück »Blutgeld« von Gerhard A. Ebert, das noch nie aufgeführt worden ist. Die Klassenbetreuerin knüpfte den Kontakt zum Autor und bekam die Rechte für die Uraufführung zugesprochen.

»Verbrechen bleibt Verbrechen«

Das anspruchsvolle Stück behandelt die Kunduz-Affäre vom September 2009 – ein hochaktueller und skandalöser Stoff – aber nach drei Jahren und weiteren politischen Skandalen aus dem öffentlichen Gedächtnis verdrängt. Doch den Theaterwissenschaftler Ebert ließ der politische Skandal nicht zur Ruhe kommen. Er recherchierte akribisch und verfasste das Stück. Er sagt dazu: »Es ist nichts erfunden. Es sind alles Fakten. So vieles im Leben erscheint wie Theater. Und im Theater erscheint so vieles real.«

In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 werden zwei Tanklastwagen von zwei Taliban in der Nähe der afghanischen Stadt Kunduz entführt. Der Bundeswehr-Oberst Georg Klein fordert einen »angemessenen« Bombenabwurf und »verbombardiert« sich damit in »Absurdistan«. Mit der Bombenszene als Filmeinspielung wird das Theaterstück eingeleitet und führt den Zuschauer direkt an den Schauplatz. In den insgesamt 16 Szenen dokumentiert Ebert den blutigsten deutschen Militäreinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Befehl zum Bombenangriff hat die Bundeswehr gegen Nato-Regeln verstoßen, hochrangige Politiker täuschten bewusst die Bevölkerung und es starben mehr afghanische Zivilisten, als öffentlich zugegeben worden ist.

Die Dialoge entlarven die politischen Intrigen zwischen den einzelnen Akteuren. Die Brechung zwischen Realität und Theaterspiel wird durch die Figur des Sykophanten deutlich. Der Sykophant taucht plötzlich aus dem Publikum auf und mischt sich immer ein, wenn die Schauspieler auf der Bühne die Fakten verdrehen: »Na gut! Na gut! Spielen Sie weiter! Machen Sie den Leuten etwas vor. Zeigen Sie ihnen, wie es hätte sein können!« Die Kanzlerin reagiert irritiert auf die Unterbrechungen und verlangt zu wissen, mit welchem »Migranten« sie es zu tun hat.

Die angeblich »angemessene« Bombardierung der unzähligen Taliban wird aufgelöst und es stellt sich heraus, dass unzählige Zivilisten bei dem Angriff ihr Leben ließen. Nun soll alles »unter den Teppich gekehrt« und das Schweigen erkauft werden, indem das landesübliche »Blutgeld« gezahlt wird. In dieser Situation ist es die Rolle des Sykophanten, die angeblich »angemessene« Bombardierung richtig darzustellen: »Verbrechen bleibt Verbrechen«.

Politbühne trifft Theaterbühne

Eine Komödie haben sich die Schüler nicht ausgesucht, auch wenn die Dialoge sehr amüsant verlaufen. Um die Ernsthaftigkeit des Stückes aufzubrechen, setzt der Autor Nummerngirls ein. Katharina Nelles erklärt, dass es gar nicht so einfach für die Klasse war, dieses Element des Stücks umzusetzen: »Am Anfang wollte keiner das Nummerngirl sein. Aber es ist in dem Stück drin. Herr Ebert hat uns im November besucht und zwei Tage lang mit uns verschiedene Szenen besprochen, einige schauspielerische Übungen gemacht und uns ein paar Regieanweisungen gegeben. Er hat auch gesagt, dass das Nummerngirl wichtig für das Stück sei, da es zeigt, dass Politik wie Varieté ist. Wir hatten dann überlegt, ob sowohl die Jungen als auch die Mädchen aus der Klasse jeweils ein Nummernschild einmal tragen sollten. Oder ob unsere Lehrerinnen das machen sollten? Oder ob wir uns Burkas anziehen sollten als Nummerngirl? Zum Schluss habe ich mich mit drei anderen Mädchen bereit erklärt, den Part zu übernehmen.« Die Nummerngirls leiten wie bei einem Boxkampf die nächste Szene ein: der Vergleich mit einem politischen Schlagabtausch liegt nahe.

Zwei Generalproben für die Zwölfte

Neben der Kunstreise, den künstlerischen Abschlüssen und der Jahresarbeit ist das Theaterprojekt ein Bestandteil des Waldorfabschlusses. An einigen Waldorfschulen wird es inzwischen auf freiwilliger Basis durchgeführt. Die Schüler müssten sich auf das Abitur vorbereiten und der Druck sei groß, ist das Argument. Philippa Bertram, eine der beiden Klassenbetreuerinnen, findet das schade: »Das Theaterprojekt steht im Kontrast zur Jahresarbeit: ein individuelles Projekt – die Jahresarbeit – und ein Gemeinschaftsprojekt – das Klassenspiel. Hierbei muss in der Gruppe zusammen ge­arbeitet, müssen Hochs und Tiefs gemeinsam gemeistert werden. Das sind zwei Generalproben für das Leben: Schaffe ich mein eigenes Projekt und schaffe ich das Gemeinschaftsprojekt?«

»Mit viel Herz und Klugheit«

Die Gemeinschaft hat gezeigt, dass sie auch kleinere oder größere Krisen gut überwinden kann. Die Klasse hat es geschafft, jede Figur gebührend zu interpretieren. Die Requisiten waren sparsam, aber aussagekräftig ausgewählt, der Auf- und Abbau funktionierte und die technischen Einspielungen fanden zum richtigen Zeitpunkt statt. Pannen gab es selbstverständlich auch! Auch damit sind die Schüler souverän umgegangen. Die Klasse hat als Team harmonisch zusammen gearbeitet und die Uraufführung zu einem Erfolg gebracht. Gerhard A. Ebert war eigens für die Uraufführung aus Berlin angereist und sichtlich bewegt, als er nach der Aufführung auf der Bühne sagte: »Mit viel Herz und Klugheit habt Ihr Euch einem Stoff gewidmet, vor dem selbst die Profis kneifen.«

Zu der Autorin: Aslı Güleryüz-Molin ist Journalistin und Mutter von zwei Kindern. Ihre Tochter besucht die zweite Klasse der Michaeli Schule Köln.