Altruismus kann man üben – vom ersten Schultag an

Sven Saar

Am Einschulungstag, um 10.30 Uhr:

Jedes Kind ist durch das Blumentor geschritten, das Orchester hat gespielt, der Klassenlehrer hat die bedeutungsvolle Geschichte erzählt, die Eltern haben geklatscht und fotografiert. Jetzt erhebt sich der Saal und die Erstklässler schreiten teils bange, teils stolz hinter ihrem Lehrer den Gang hinunter und aus dem Saal hinaus. Die Tür schließt sich hinter ihnen. Der Lehrer dreht sich um: »Jetzt, liebe Kinder, werde ich euch zum ersten Mal in unserer Zeit miteinander etwas beibringen. Ihr werdet etwas ganz Wichtiges lernen, das euch ein ganzes Leben lang begleiten soll.« Die meisten Kinder sind beeindruckt, nur Felix ruft: »Das hat mir meine Schwester schon erzählt. Du bringst uns die krumme und die gerade Linie bei!« Der Lehrer lacht: »Das auch, Felix, doch vorher lernt ihr noch etwas viel Nützlicheres. Schaut einmal diese Tür an.« Er weist auf eine Glastür, die auf den Schulhof führt und durch welche die Klasse zu ihrem Pavillon gehen muss. »Man nennt sowas eine Schwingtür, weil sie nur einen Menschen durchlässt und dann wieder zuschwingt. Wenn wir da als Klasse durchgehen wollen, müssen wir einzeln hintereinander gehen und immer dem nächsten Kind die Tür aufhalten. Und das wollen wir jetzt einmal üben!«

Die Kinder stellen sich auf, und nacheinander schreiten sie durch die Glastür ins Freie, jedes dem Nächsten höflich den Türflügel überlassend. »Müssen wir das noch einmal machen, oder habt ihr das verstanden?«, fragt der Lehrer. »Haben wir«, antworten einige Kinder. Dann überquert die kleine Gruppe den Pausenhof und die Übung wiederholt sich noch einmal, schon ein wenig selbstständiger. Im Klassenzimmer geht es dann endlich an die Gerade und die Krumme.

Immer wieder wird der Lehrer in diesem und in kommenden Jahren die Gelegenheit zum Innehalten ergreifen, ohne lange Erläuterungen, aber mit dem inneren Anspruch »Jetzt achten wir mal auf die Anderen«. Allmählich begreifen die Kinder, dass Rücksichtnahme eine selbstverständliche Tugend im täglichen Umgang miteinander ist, und können das Gelernte schon bald alleine anwenden.

Zweite Klasse, im Januar, 8.25 Uhr:

Die Kinder haben ihre Freude am Parcours aus Bänken, Kissen, Seilen und Reifen, auf dem sie nonstop im Kreis herum balancieren dürfen. Man darf auch in der Gegenrichtung gehen und muss dabei natürlich besonderes Geschick beweisen. Jetzt sagt der Lehrer: »Nun müssten wir eigentlich umbauen. Ihr dürft aber noch so lange weiterklettern, bis ein Kind etwas sagt.«

Die Zweitklässler, die bis jetzt fröhlich-robust mit dem Parcours umgegangen sind, lieben diese Variante. Sie werden ganz leise und beginnen, auch seelisch auf Zehenspitzen zu gehen. Die Minuten verstreichen – die Kinder werden immer stolzer, dass es ihnen so gut gelingt, miteinander still zu sein: Immerhin bewegen sich hier ihrer 30 akrobatisch im Raum. Aber was ist das? Hinten an der Wand ist eine Rutschbank, und Felix zieht sich immer wieder hoch und saust hinunter; entweder merkt er nicht, dass sich da eine Schlange bildet oder es ist ihm egal, jedenfalls hält er erst einige, dann immer mehr Schüler auf. Was machen die jetzt? Niemand fällt aus der Spielregel und beschwert sich: Alle stehen erst still und geduldig da und warten, ob sich das Problem von alleine löst, dann drehen sie sich leise um und gehen andersherum, während der Lehrer dem immer noch selig rutschenden Felix leise korrigierend ins Ohr flüstert. Insgesamt eine Viertelstunde lang schafft es die zweite Klasse an diesem Wintermorgen, diese konzentrierte, sich gegenseitig Raum gebende Ruhe zu bewahren.

Am Freitag beim Wochenabschluss erinnert der Lehrer noch einmal an diese Begebenheit. Er lobt zuerst Felix, der sich von ihm ohne Widerworte ermahnen ließ, dann aber besonders die Mitschüler, denen das Gelingen des gemeinsamen Unterfangens wichtiger war als die Entrüstung über den »Spielverderber«. Ellenbogen, mit denen wir uns durchsetzen können, sind uns angeboren. Rechthaberei brauchen wir nicht zu trainieren. Der Moment des Innehaltens aber, der Selbstbesinnung, in welchem dem Kind bewusst wird: »Jetzt muss ich auf die Bedürfnisse der anderen achten«, sollte in der Schule wie auch in der Familie gepflegt werden. Altruismus kann man nicht erklären – man muss ihn im Tun erwerben.

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach