Klassenzimmer

Auf den Spuren der Künstlergruppe »Der Blaue Reiter«

Brigitte Kaiser
Georg Schumann

Nach einer Einführung in der Schule wandern wir vor Ort auf den Spuren der Künstler des »Blauen Reiters«, wir skizzieren in der Natur und malen abends in der Stube. Gleich im Anschluss an die Exkursion wird das Klassenzimmer zum Atelier. Über zwei Tage malen die Schüler:innen ein großformatiges Ölbild. Ein Besuch des Lenbachhauses rundet die Epoche ab.

Doch zunächst: Wer war die Künstlergruppe »Der Blaue Reiter«? Die Gruppe formierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre bedeutenden Vertreter:innen sind Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Franz Marc, August Macke, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin. Die Künstlervereinigung bestand nur wenige Jahre. 1911 wurde der erste Almanach Der Blaue Reiter veröffentlicht. In dieser Kunstzeitschrift wurden wegweisende neue Gedanken und Ideen über Kunst formuliert. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs fand jedoch diese intensive Zeit künstlerischer Auseinandersetzung ein jähes Ende.

Das Entstehen der Epoche hat auch mit dem Ort München und seinen spezifischen lokalen Bezügen zu tun. Alle Künstler:innen wohnten in Schwabing. Viele Kinder kennen die Ainmillerstraße, in der Kandinsky, Münter und Marc wohnten, ebenso wie die Giselastraße, in der Jawlensky und Werefkin ihr Zuhause hatten. Aus diesem Grund hieß die Gruppe zunächst »die Giselisten«. In den Jahren nach 1900 entwickelte sich München – insbesondere das Stadtviertel Schwabing – zu einer innovativen Metropole der Kunst und ließ sein Image als Provinzhauptstadt hinter sich. Malerfürsten wie Lenbach, Stuck oder Hildebrand residierten in ihren herrschaftlichen Villen, auch Schriftsteller wie Thomas Mann und Komiker wie Karl Valentin lebten hier. Ebenso hielt Rudolf Steiner zu dieser Zeit hier seine Kunstvorträge. In den Salons diskutierten die Künstler:innen und feierten ausgiebig.

Heute zeigt das Lenbachhaus die Werke der Künstler:innen des »Blauen Reiter«. Das Lenbachhaus gründet seinen Ruf als international bedeutendes Museum auf seine einmalige Sammlung von Werken des »Blauen Reiter«. Anlässlich ihres 80. Geburtstags schenkte Gabriele Münter ihre Kunstsammlung mit herausragenden Werken, die sie vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten in ihrem Versteck in Murnau gerettet hatte, im Jahr 1957 der Städtischen Galerie. Damit gelangte der vorher eher provinzielle Ausstellungsort mit einem Schlag zu Weltruhm. Viele dieser Werke entstanden bei Ausflügen ins Münchener Umland, in dem die Künstler auch zeitweise wohnten. Ihre in der Natur gewonnenen Eindrücke malten sie nicht immer sofort. Vielmehr setzten sie ihre Impressionen am Abend oder auch erst nach Rückkehr in München als Bild um und verarbeiteten so ihre Erinnerungen. Kandinsky bezeichnet diesen Prozess als Improvisation. Diesen Vorgang vollziehen auch die Schüler:innen während der Exkursion oder zurück in der Schule in sprachlicher und bildlicher Form.

»Ich habe dich gesucht und noch nicht gefunden,
die Sehnsucht ist groß, doch find’ ich dich nicht.
Ich weiß, dass du da bist, doch seh’ ich dich niemals.
Wo und wann, das weiß ich nicht.
Ich werde dich finden, das weiß ich genau.
Auf die Frage: Wer ist er? Wie heißt er?
Das kann ich nicht sagen, weil ich es selber nicht weiß.
Doch würde ich gern wissen, wie er heißt.
Wie lang ich noch warte, ist nicht klar,
doch wenn du da bist, wäre es wunderbar.«

In den Gedichten, die während der Exkursion oder als Nachbereitung in der Schule entstanden, spiegelt sich deutlich wider, dass die Schüler:innen sich in einer Übergangsphase befinden. Man spricht von Vorpubertät. Um das 14. Lebensjahr tritt der heranwachsende Mensch in ein neues Verhältnis zur Welt. Die unbeschwerte Kindheit geht zu Ende und gleichzeitig ist das Neue für sie noch nicht greifbar. Ein Moment der Sprachlosigkeit tritt ein. Auch auf physischer Ebene macht sich die Veränderung bemerkbar. Die Auswirkungen zeigen sich oft in einem enormen Längenwachstum, Müdigkeit und dem großen Bedürfnis zum Chillen.

Grundlegendes ändert sich mit der seelisch-geistigen Fähigkeit, Distanz aufzubauen und die Rolle des Beobachters einnehmen zu können. Ein Verständnis von Ironie und das Begreifen von kausalen Zusammenhängen wird nun möglich. Auch spüren die Schüler:innen, dass sie selbst Prozesse gestalten möchten, was sich im Unterricht und auch zu Hause verstärkt zeigt, so wollen sie zum Beispiel selbst entscheiden, wann und wie sie ihre Aufgaben erledigen. Entsprechend ihrer Entwicklungsstufe beschäftigen sich die Schüler:innen unter dem Motto »Auf in eine neue Welt« in der Geschichtsepoche mit dem Beginn der Neuzeit. Auch auf künstlerischer Ebene begeben sich die Schüler:innen mit dem Kennenlernen der expressionistischen Malerei auf Entdeckungsreisen und brechen in neue Bilderwelten auf. Diese erwachenden Kräfte können in eine positive oder negative Richtung driften. Findet ein Jugendlicher für seine Ideale keine Anknüpfungspunkte in der Welt, so kann seine Energie auch zu einer destruktiven Kraft werden.

Die Kunstwerke des »Blauen Reiter« geben äußere Bilder, an denen sich die Pubertierenden orientieren können.

Der künstlerische Ausdruck kann über Farben und Formen stattfinden oder über den sprachlich-poetischen Weg. Wenn Schüler:innen über Kunstwerke zum »Blauen Reiter« schreiben, müssen sie sich nicht direkt mit sich selbst beschäftigen, sondern können dank der Sprache der Kunst ausdrücken, was sie momentan beschäftigt, was sie möglicherweise nicht bewusst wahrnehmen, was aber dennoch in ihrem Gefühlsleben vorhanden ist.

Himmelskind und Erdenkind

Henning Köhler bezeichnet der Phase zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr als »Schlüsselzeit«, da sich in diesem Zeitraum vieles im Hinblick auf die Quelle innerer Kraft und innerer Gesundheit entscheidet. In diesem Zeitraum tritt die seelische Kraft des »Eros« erstmals in Erscheinung. Der »Eros« ist das Potential, sich mit seiner ureigenen Individualität auseinanderzusetzen. Durch die künstlerische Tätigkeit erscheinen den Schüler:innen Aspekte ihrer selbst als ein durch Bildsprache erzählendes Abbild vor Augen, wie zum Beispiel oben zu sehen als Vogel oder Pferd. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn das »Erdenkind« so in seinen Willen kommt, dass eine künstlerische Arbeit entsteht. Köhlers Überlegungen zur Kraft des »Eros« basieren auf der Annahme, dass der Mensch sowohl in »irdischen« wie auch in »himmlischen« Wesensbereichen existiert.

Aus anthroposophischer Perspektive ist der Mensch als »Himmelskind« zurückgebunden an sein vorgeburtliches Leben. Dieser Bereich ist vergleichbar mit einem Unschuldsraum, mit Reinheit, vollständiger Offenheit, Aufnahmebereitschaft, Arglosigkeit, Hingabefähigkeit und Vertrauen. Johannes Greiner charakterisiert die Fähigkeit, sich mit der spirituellen Welt zu verbinden, als »inneres Kind«. Das Kindliche in uns ist die schöpferische und erneuernde Kraft, die wiederum mit Phantasie- und Vorstellungsfähigkeit verknüpft ist. Es verbindet uns mit unserem Urquell und Ursprung. Es ist das immerfort Werdende, Unerwartete, die Initiativkraft, die Fähigkeit zu staunen, zu fragen und sich zu begeistern. Das innere Kind ist immer existent, kommt jedoch in der Kindheit besonders zum Ausdruck. Verloren geht es nie, aber der Mensch verliert den Zugang zu ihm. Die spirituelle Verbindung zum Kosmischen, die die Kinder noch haben, spiegelt sich im Künstlerischen in einer ursprünglichen Ausdruckskraft. Berühmt wurde Picassos Ausspruch, dass jedes Kind ein Künstler sei. Diese intuitive Ausdruckskraft wird jedoch mit Eintritt der Pubertät zurückgedrängt.

»Jedes Kind ist ein Künstler, das Problem ist nur, ein Künstler zu bleiben, während man erwachsen wird.« (Picasso zitiert in Time Magazine 4.10.1976).

Das »Erdenkind« wiederum ist verbunden mit den irdischen Verhältnissen, pragmatisch setzt es sich mit den harten Realitäten auseinander. Es ist kein unschuldiges und vertrauensvolles Wesen mehr. Der Zugriff zur Welt wird rationaler, Prozesse werden durchschaut, was nicht immer das Selbstvertrauen stärkt, sondern auch zu Zweifel, Misstrauen und Einsamkeit führen kann. Köhler betont, dass für die Gesundheit des »Erdenkindes« das »Himmelskind« eine Quelle der Kraft ist, es kann auch als sein höheres Selbst, sein höheres »Ich« bezeichnet werden.

Die Exkursion

Die Exkursion dauert drei Tage. Diese sind abwechslungsreich gestaltet mit Museumsbesuchen, Malen, Gedichte schreiben und Wandern in der Natur. Grundlegende Ideen der Farbtheorien Kandinskys, die Farbsymbolik Franz Marcs und den Farbkreis mit den Komplementärkontrasten lernen die Kinder anfänglich kennen. Das Erzählen der Künstlerbiografien ermöglicht den Schüler:innen einen emotionalen Zugang zu den Persönlichkeiten, ihren Werken und zum beginnenden 20. Jahrhundert.

Nichtsdestotrotz steht für die Siebtklässler:innen das Erleben der Farben im malerischen Prozess absolut im Vordergrund. Sie sollen aktiv in Farben und Formen eintauchen und sich von einem emotionalen, intuitiven Vorgehen leiten lassen. Die Schüler:innen in den siebten Klasse tauchen ohne tiefe rationale Durchdringung der künstlerischen Positionen des »Blauen Reiter« in das Tun ein. Dazu eignen sich besonders die frühen Werke der Künstler, unterstützt durch Wanderungen in der Natur und das Malen vor der Natur. So eröffnet sich über mehrere Tage und Nächte ein Themenraum, in den die Schüler:innen ohne die alltäglichen Ablenkungen eintauchen.

Das Thema der Abstraktion wird erst in der Klasse 11 behandelt, wenn wir uns erneut mit dem »Blauen Reiter«, Kandinsky und seiner Farb- und Formenlehre beschäftigen werden. Während die Dreizehnjährigen über das Tun Zugang zur Farbe entwickeln, haben die Elftklässler:innen in dieser Entwicklungsphase die nötige geistige Reife für die Auseinandersetzung mit den Kunsttheorien.

Ölmalerei im Klassenzimmer

Nach der Exkursion verwandelt sich das Klassenzimmer an zwei bis drei Tagen vormittags in ein Atelier. Die Vorbereitungen dazu müssen gut durchdacht sein. Das großformatige Malen mit Ölfarben bietet den Kindern eine neue Qualität und intensiviert den malerischen Prozess. Sie erleben die Haptik und intensive Leuchtkraft der Farben. Ölmalerei ist technisch anspruchsvoll, gewisse Regeln der Handhabung müssen die Kinder erlernen. Auf der Ebene der technischen Herausforderungen wird ihnen deutlich, dass das künstlerische Tun nicht nur ein kreativer Impuls ist, sondern dass auch spezifische Materialeigenschaften eine Rolle spielen und handwerkliche Fähigkeiten gefordert sind. Genaues Hinsehen und differenziertes Wahrnehmen zählen zu den grundlegenden Lernzielen der Epoche – insbesondere beim Besprechen der Bilder. Die Augenblicke, in denen sich die Kinder darum bemühen, die Wahrnehmungswelt in ihrer Vielfalt zu sehen, tragen zum Ausbilden ihres ästhetischen Empfindens bei. Hier zeigt sich eine augenscheinliche Parallele. In der körperlichen Entwicklung der Siebtklässler hat sich der Lungenbaum differenziert ausgebildet. Das Sensibilisieren für die Vielschichtigkeit der Erscheinungen und für genaues Wahrnehmen steht in Analogie zur Ausbildung der Atemreife. Die Atmung differenziert sich aus und die Empfindungsfähigkeit nimmt zu. In ihrer bunten Unterschiedlichkeit können diese Bäume symbolisch für den ausdifferenzierten Lungenbaum stehen und spiegeln gleichzeitig das reiche Innenleben der Kinder wider.

Gerade zwischen zwölf und vierzehn Jahren können die Kinder noch aus dem Unmittelbaren schöpfen, bevor mit zunehmender Pubertät die spontane Schaffenskraft von festen Vorstellungen überlagert wird. Eine mehrtägige Exkursion – das Schaffen eines Zeitfensters – ermöglicht den Kindern, in dieser besonderen Phase intensiv und impulsiv in das künstlerische Arbeiten einzu­tauchen.

Literatur: H. Köhler: Eros als Qualität des Verstehens – Über das erotische Erwachen im Jugendalter und den gemeinsamen Ursprung von Kreativität und Zärtlichkeit. Wangen/Allgäu 2010 | J. Greiner: Das innere Kind und der Quell der Kreativität, Hamburg 2019

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.