Beziehung ist ständiger Wandel

Andrea Härty

Worte, die man aktuell immer wieder hört, auch an Waldorfschulen. Warum aber gerade an Waldorfschulen, wo man doch durch ihren Lehrplan einen ganz besonderen Blick auf die Schüler und deren Entwicklung hat – wo Körper, Geist und Seele gleichermaßen angesprochen werden?

Stellt man sich vor, ein Lehrer sei perfekt ausgebildet in seinem jeweiligen Spezialgebiet, in pädagogischen Grundlagen und eben auch in menschenkundlichen Dingen, so hat er erstmal doch nur Spezialwissen und Spezialistentum. »Dieses Spezialistentum machte den Menschen zum Physiker, zum Botaniker, zum Advokaten, zum Professor, zum Lehrer und so weiter, aber es trieb ihm den Menschen aus«, so Steiner (GA 335).

Hier liegt eben der Knackpunkt. Das Spezialistentum allein reicht nicht, genauso wie der Unterricht auf Basis eines Waldorflehrplans nicht reicht und sei er noch so schön aufbereitet. Damit allein erreicht man die Schüler nicht. Doch gerade darin liegt die Basis für alles: Man muss den Schüler erreichen.

Schon vor 50 Jahren hat der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick erkannt, dass sich Problemlösungsprozesse zwischen Menschen zu 80 Prozent auf der Beziehungsebene abspielen. Methodik und fachliche Kompetenz machen dabei nur 20 Prozent aus. Das heißt, dass sich 80 Prozent der Unterrichtswirksamkeit aus der Beziehungsqualität zwischen Lehrern und Schülern ergeben. Erfolgreicher Unterricht hat demnach gute, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern zur Voraussetzung.

Rudolf Steiner hat das Erreichen der Schüler und damit eine tragfähige Beziehung mit der »geliebten Autorität« beschrieben. »Wenn man nicht die selbstverständliche Autorität hat, dann kommt eben das heraus, was bei jener Lehrerin herausgekommen ist. Die betreffende Lehrkraft konnte eine Erzählung an die andere fügen, die Kinder waren immer in Spannung, nur durfte die Spannung nicht nachlassen. Wenn diese Lehrkraft nun übergehen wollte zu entspannen, was ja auch da sein muss – denn sonst werden die Kinder zuletzt vollständige Nervenbündel –, da ging das eine Kind aus der Bankreihe heraus, fing an zu spielen, das andere ging, um einige Turnübungen zu machen, das dritte machte Eurythmie, das vierte prügelte sich mit einem andern; ein anderes lief hinaus zur Türe, und so war bald ein Getriebe, dass man die Kinder nicht wieder zusammenbringen konnte, um die weitere spannende Erzählung zu hören« (GA 311).

Steiners Beispiel mit der Lehrerin gilt nicht nur in der Schule, sondern auch im familiären Bereich. Gerade durch das Fehlen von tragfähigen Beziehungen in der Familie und in der Schule verlieren die Kinder und Jugendliche das Vertrauen in die Erwachsenen. Denn sie spüren unbewusst, wie echt und tief eine Beziehung ist, ob sich ein Erwachsener wirklich auf sie einlassen kann, es ehrlich mit ihnen meint und auch Verantwortung übernimmt. Spüren sie jedoch, dass eine Beziehung dauerhaft verletzt ist, reagieren sie in einer Art und Weise, die wir heute oft als auffällig bezeichnen.

Wahrnehmen und annehmen

Spricht man heute davon, dass die Anzahl der »auffälligen Kinder« in den letzten zehn Jahren um mehrere hundert Prozent gestiegen ist, so sollte man zuerst die Beziehungsqualität prüfen. Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass die Fremdbetreuung in der Familie immer weiter zunimmt und immer früher beginnt. Gepaart mit beruflichem und privatem Stress der Eltern kann dies die Beziehungsgrundlage stark beeinträchtigen. Ist sie schon im privaten Bereich unsicher oder gefährdet, kommen die Kinder mit einem erhöhten Verlangen nach einer tragfähigen Beziehung in die Schule. Wenn wir sie hier als »verhaltensauffällig« abtun, kann dies nur zu weiteren Kränkungen und zu tiefem Schmerz führen.

Steiner hat den Lehrern eine Antwort gegeben: »Die Lehrkraft muss mit einem solchen Gemüte, in einer solchen Seelenstimmung in die Klasse hereinkommen, dass sie geeignet ist, sich wirklich in die Seele der Kinder ganz zu vertiefen. Wodurch erreicht man dieses? Dadurch, dass man seine Kinder kennt. Sie werden sehen, dass sich darinnen in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Praxis erringen lässt, selbst wenn man fünfzig oder noch mehr Kinder in der Klasse hat. Man lernt seine Kinder kennen; man lernt seine Kinder vorstellen; man weiß, welches Temperament das einzelne Kind hat, welche Begabung es hat, welche Physiognomie es hat und so weiter« (GA 311).

Dies lässt sich natürlich auch auf die Elternrolle übertragen. Kinder und Jugendliche wollen kooperieren, aber dazu brauchen sie Erwachsene, die ihnen die Möglichkeit dazu geben. Wir sollten um der Kinder willen zusammen sein und uns tief und ehrlich auf sie einlassen. Dass Kinder und Jugendliche der Führung durch Erwachsene bedürfen, daran besteht kein Zweifel, aber es ist mit einer ganz besonderen Feinheit vorzugehen. Statt pauschal zu bestrafen, müssen Eltern und Lehrer mit den Kindern und Jugendlichen in den »echten« Dialog gehen.

Der Lehrer muss die Kinder sehen

Ich möchte ein Beispiel geben, das sich bei mir in der 2. Klasse abgespielt hat. Völlig beseelt berichte ich den Eltern, wie wunderbar die Kinder in der Klasse angekommen sind, wie harmonisch es läuft und ich völlig entspannt guten Unterricht machen kann. Zwei Tage später komme ich morgens voller Freude in meine Klasse und bereite das Tischchen in der Mitte unseres Kreises mit frischen Blumen vor, als die ersten Schüler hereinkommen und mich begrüßen. Binnen weniger Minuten muss ich den ersten Streit schlichten. Kurz darauf höre ich im Flur lautes Schreien. Ich eile hinaus und beende einen kleinen Kampf zwischen zwei Jungs mit hochroten Köpfen. Dann klingelt es, ich beginne mit dem täglichen Morgenspruch, den wir normalerweise in andächtiger Stimmung sprechen. Ich schaue während des Spruchs jedes Kind einmal gezielt an, um es nochmals willkommen zu heißen. An diesem Tag gelingt mir das nicht. Ich muss kurz innehalten, da immer wieder Unruhe herrscht. Auch im rhythmischen Teil bekomme ich nicht die gewohnte Leichtigkeit und Freude hinein. Ein Kind stößt an ein anderes, Tränen wollen getrocknet werden. Im Arbeitsteil merke ich, wie mich die Stimmung der Kinder mitnimmt und ich strenger reagiere, als ich es eigentlich möchte. Unzufrieden mit mir gehe ich nach diesem Unterricht nach Hause. Die nächsten Tage werden nicht viel besser. Ich überlege immer wieder, was mache ich falsch, was ist anders, ich versuche die Kinder zu reglementieren … und bin selber innerlich unzufrieden, traurig. Ich merke selbst, dass mein Geschimpfe nichts bringt. Die Kinder mögen mich, dessen bin ich mir bewusst, sie wollen mich nicht ärgern. Was ist da gerade los? Ich versuche einen Schritt zurückzugehen und schaue mir im Geiste die Augen der Kinder an.

Da kommt es mir über Nacht: Es ist Michaeli-Zeit. Wir befinden uns auf der Schwelle vom Sommer zum Herbst. Wir alle sind in dieser Zeit unbewusst – der ein oder andere auch bewusst – mit den Fragen: »Wer bin ich? Wo stehe ich? Werde ich gesehen?« beschäftigt. Licht und Schatten, beides tragen wir in uns, ringen miteinander. Ich lese eine Michaeli-Geschichte (»Die Flaumfeder«) und erahne, was meine Schüler brauchen. Sie brauchen gerade keine neuen Formen oder Rechenaufgaben, sie brauchen ein Gefühl, dass sie, so wie sie sind, gut sind, dass sie bedingungslos angenommen sind. Aus diesen Gedanken heraus gestalte ich meinen Unterricht um, wir spielen ein Michaelspiel, das ich mir für die Kinder ausgedacht habe, erzähle Geschichten zu Michaeli intensiver und wir backen Michaelsbrötchen aus Hefeteig. Als ein Junge mit leuchtenden Augen ins warme Brötchen beißt und sagt: »Frau Härty, da schmeckt man richtig den Zimt heraus, das ist so gut«, da weiß ich, ich bin wieder in Beziehung zu meiner Klasse. Und da ist es wieder, mein Gefühl, dass es so stimmig ist und ich kann beschwingt und mit neuer Kraft aus meinem Unterricht nach Hause gehen. Beziehung ist ständiger Wandel. Was gestern noch gut war, kann heute schon hinterfragt werden. Unsere Aufgabe als Lehrer ist es, immer wieder eine Beziehung zu den Kindern zu suchen, ihnen immer wieder die Hand zu reichen und nicht Gelingendes nicht abzutun, sondern es dankbar anzunehmen und in eine neue Beziehung zu den Kindern umzuwandeln, zu spüren, was sie gerade brauchen. Dann kann Schule gelingen.

Zur Autorin: Andrea Härty ist Klassenlehrerin an der Rudolf Steiner Schule Coburg und selbst ehemalige Waldorfschülerin.

Literatur: R. Steiner: Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, GA311, Dornach 1989 | Ders.: Der innere Aspekt des sozialen Rätsels, GA193, Dornach 1989 | Ders.: Die Waldorfschule und ihr Geist, GA 297, Dornach 1988 | Ders.: Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken, GA 335, Dornach 2005