»Das ist so Meins«

Maria-Sibylla Hesse

Zu den Charakteristika der Waldorfschule gehört das Epochenheft. Was denken Schülerinnen und Schüler der Oberstufe darüber? Eine nichtrepräsentative Umfrage zu einem klassischen Waldorf-Lernmittel im Geschichtsunterricht.

»Also mir macht es Spaß, ’nen Hefter zu gestalten und so zu sehen, wie sich das entwickelt, und dann durchzu­blättern: Ah, das ist so Meins!« Valeria zeigt sich stolz und ihr Bedürfnis nach Individualisierung ist befriedigt. Doch dem können nicht alle Zehntklässler zustimmen. Ihr Klassenkamerad Leo wies auf ein Dilemma hin: »Für mich ist der Hefter eigentlich fast unnötig. Es ist einfach ein bisschen so ein Zusatz. So dass man den Hefter passend für den Lehrer führt. Ich führ doch den Hefter für mich, und nicht für den Lehrer! Deswegen mag ich diese Hefter­abgabe nicht.«

Ein »Spiegel der Epoche«

Valeria definierte im Laufe des Gesprächs das Epochenheft: »Aber es ist eigentlich die Epoche, 30 Mal aufgeschrieben.« Unter der Zustimmung der anderen zeigte sie die Grenzen der Eigenständigkeit auf und relativierte ihre obige Einschätzung: Bei Schreibaufgaben habe jeder sowieso mehr oder minder das Gleiche. Man dürfe Themen, die einen weniger interessierten, nicht weglassen und könne umgekehrt auch kurz Erwähntes nicht so vertiefen, wie es dem eigenen Interesse eigentlich entspräche. In diesen zunächst widersprüchlich wirkenden Aussagen zeigen sich Ambivalenzen des Epochenhefts zumindest im Fach Geschichte. »30 Mal die Epoche aufgeschrieben« – ist das im frühen 21. Jahrhundert der Oberstufe angemessen, wenn fast jede Information nur ein paar Internet-Klicks entfernt zu lesen steht?

Der Nutzen des Epochenhefts

Rückblickend formulierte ein 13.-Klässler, dessen Hefte nicht nur in Geschichte erstklassig ausfielen: »Also beim Epochenheft ging es ja gerade darum, dass es schön, für lange Zeit und in möglichst perfekter Form eingeschrieben wird, deswegen hatte das eine große Bedeutung für mich. Allerdings auch viel Arbeit: Ich habe die Texte vorgeschrieben und dann nochmal abgeschrieben. Das war einerseits gut, denn man kann die Texte bis heute lesen und man kriegt einen schönen Handlungsstrang und oft auch Detailwissen. Es ist meistens relativ nah daran, was der Lehrer erzählt hat, aber das kann man sich gut merken. Ich kann damit gut lernen.«

Epochenhefte(r) sollen in der Tat das Schulbuch ersetzen, damit Inhalte und Methoden breit dokumentiert werden, und zwar von allen Schülern. Gleichzeitig wiederholen die Lernenden den Stoff durch den Hefteintrag, können ihre Notizen aus dem Unterricht überarbeiten und bilden ihre Fähigkeiten. Viele Jugendliche sagten mir, sie läsen ihr Heft zur Vorbereitung auf Tests mehrfach durch.

Der Wert des Epochenhefts als Wissensspeicher ist unbestritten. Außerdem meinte Vic: »Also, der Hefter spiegelt ja auch immer die Selbstständigkeit wider.« Er erkannte das aktive Sich-Verbinden mit den Inhalten als Grundlage für das eigene Lernen und Reflektieren.

Mit der Reproduktion des Stoffes im Heft sind viele Schüler ge-, andere überfordert. Während die einen gerne liebevoll gestalten, beschränken sich andere auf die nötigsten Stichsätze. Immer noch beobachte ich in der Tendenz, dass ich von Mädchen schönere, leichter lesbare und teilweise ausführlichere Geschichtshefte erhalte, während Jungs ihre Energie stärker in mündliche Mitarbeit stecken.

Ästhetische Ansprüche

Die weißen Seiten des Epochenhefts in den Kulturfächern lassen viele Formen der Dokumentation zu: Aufsatz, Mindmap, Wort-Cluster, Chronologie, Karte, Bild … Das kommt den verschiedenen Lerntypen entgegen. Zeichnen zu dürfen oder zu müssen trifft auf ein geteiltes Echo: Während Leo nicht gerne »lange Zeit mit irgendwelchen Zeichnungen verbringt«, schätzte Valeria es als hilfreich ein: »Mir persönlich, nicht nur im Geschichtsunterricht, hilft es immer, was zu zeichnen, weil man dann nochmal anders auf die Sache schauen« müsse, was sich dem Gedächtnis stärker einpräge.

Eine Abiturientin machte die Erfahrung, beim Schreiben mit der Hand »vertieft sich das noch mehr, als wenn man mit dem Computer tippt«. Ihr Klassenkamerad widersprach – seine Schrift war immer schwer zu entziffern. Manche Klassen bringen aus der Unterstufe eine ausgebildete Heftkultur mit und legen auf schöne Handschrift – sauber arbeiten »ist ja oft im Leben sehr wichtig«, so ein Interviewter – und ästhetische Ansprüche großen Wert. So fand die Schülerin einer anderen Schule das Einkleben kopierter Quellen »immer viel zu unordentlich«.

Wo bleibt die sprachliche und inhaltliche Qualitätskontrolle?

Was aber ist mit Schülern, die in diesem Fach am Rande der Überforderung stehen? Im Rahmen der Binnendifferenzierung kann man die Anforderungen an sie absenken, indem man ihnen etwa erlaubt, sich auf die Übernahme der Stichworte an der Tafel zu beschränken, statt auszuformulieren. – Für Erkrankte, die den Stoff nachholen müssen, kann ein entliehenes Heft hilfreicher sein als ein Schulbuch, weil die Inhalte schülergerecht durchgearbeitet wurden. Andererseits werden ggf. auch Fehler mit übernommen …

Meist täglich wird der Hefteintrag als Hausaufgabe vorgelesen. So können Fragen geklärt, inhaltliche Missverständnisse berichtigt, Lücken gefüllt werden und man arbeitet am sprachlichen Ausdruck. – Alternativ zum Vorlesen kann man stilles Austauschen der Hefte mit Banknachbarn anregen und anschließend eine Zeit für Nachfragen anbieten. Am Epochenende kann ein Tausch der Gesamtwiederholung dienen – und daneben dem Auffinden von Ungenauigkeiten bei anderen und im eigenen Heft. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine gute Fehlerkultur.

Selbstmanagement trainieren

In der Oberstufe bevorzugen Lehrkräfte manchmal einen Hefter. Das hat für Lucia und mehrere andere einen Vorteil: »Wenn man da so merkt, oh, das müsst ich jetzt nochmal verbessern oder so, dann kann man das besser rausnehmen.« Dagegen stört diese Beweglichkeit ihren Mitschüler: »Wenn ich jetzt ’ne Mappe führen soll, dann endet das bei mir in ’ner Zettelwirtschaft, das kann ich nicht machen, weiß ich aus Erfahrung.«

Am Epochenende werden die Hefte(r) üblicherweise eingesammelt und bewertet. Riesige Klassen und überlastete Lehrkräfte führten zu meiner Schulzeit in den 1970er Jahren dazu, dass wir unsere Epochenhefte meist erst Monate später – aber dann oft von Deckel zu Deckel mit Bleistift durchkorrigiert – zurückbekamen. Nur leider erinnerten wir uns schon nicht mehr an die Inhalte und die zeitauf­wändige Korrektur blieb verlorene Liebesmüh’. Deshalb empfiehlt es sich, die Schüler-Produkte mindestens einmal bei laufender Epoche – ggf. reihenweise – einzusammeln und zu korrigieren. Dies hat auch den Vorteil, als Lehrkraft zu erkennen, welche Aspekte vielleicht von mehreren Schülern falsch verstanden oder lückenhaft notiert wurden, und diese dann zu korrigieren. Noch ein Vorteil: Mit der Ankündigung einer Zwischendurchsicht wird der Aufschieberitis ein Riegel vorgeschoben, denn manche Jugendliche neigen dazu, ihr Heft erst in der Nacht vor der Abschlussarbeit fertigzustellen. – Kollegen, die noch das Wochenende danach zur Fertigstellung geben, bewirken, dass die nächste Epochen-Lehrkraft ein müderes Publikum vorfindet.

Das leidige Notenwesen

Was denken Schüler über die Bewertung? Die Wichtigkeit des eigenen Zugangs wurde oben bereits unterstrichen: »Bei mir ist es eher so, der Hefter ist nach meinem Stil geführt.« Leo wies damit auf das Dilemma hin, die Lehrkraft könnte andere Bewertungsmaßstäbe haben als er. Sarah präzisierte im gleichen Gespräch: »Ich finde, das muss man selber sehen, wie man das vom Lehrer abhängig macht. Weil, man kennt die Lehrer ja so’n bisschen.« Lucia pflichtete bei: »Das find ich auch total blöd, weil oft werden die Hefter ja so bewertet und manchmal hat man den total unordentlichen Hefter, aber für einen selbst ist der super! Deswegen find ich das eigentlich blöd, wenn der Hefter bewertet wird, weil das ist so komplett persönlich. Und oft gestaltet man den nur so, dass man ’ne gute Note bekommt, und nicht, dass man damit gut lernt.«

Bei der Bewertung stellt sich immer die Frage nach den Kriterien. Vic meinte über seinen Lehrer: »Ihm geht es, glaub’ ich, gar nicht darum, dass alles richtig ist oder seiner Meinung entspricht. Ihm geht’s darum, dass er eher ’n Arbeits- und ’n Lernprozess sieht.« Hier steht also nicht das Produkt, sondern der Prozess im Vordergrund. Inwieweit diese von mehreren Klassenkameraden bestätigte Aussage verallgemeinerbar ist, müsste eine empirische Untersuchung herausfinden. Es wäre interessant, die guten Erfahrungen an verschiedenen Schulen und die Beurteilungsraster der Lehrkräfte fachspezifisch zu analysieren. An diesem Dialog zeigte sich, dass mehrere Jugendliche andere Bewertungskriterien haben, als sie ihrer Lehrkraft unterstellen, und sich eine stärker individualisierte Notengewichtung für das Epochenheft wünschen.

Nach der Epoche: »Unterschrift, abheften, weg!«

Nochmal Valeria: »Ich muss gestehen, ich hab’ noch nie irgendwie ’nen Hefter rausgekramt aus’m Jahr davor und mir angeguckt, was ich da produziert habe. Das werd’ ich vielleicht, eventuell, später mal machen, wenn ich da Interesse dran habe, aber bis jetzt hatten die Hefter wirklich nur zentral in der Epoche eine Bedeutung für mich.« Fast alle befragten Jugendlichen sagten, sie nähmen das Epochenheft später nicht zur Hand, auch wenn ihre Lehrer ihnen dies empfahlen. Ich denke, dass das keine mangelnde Wertschätzung zeigt, sondern sie sich längst der nächsten Epoche zuwenden – waldorfpädagogisch betrachtet ist das eine gesunde Reaktion des Absinkens in Vergessen und Fähigkeitsbildung. Im heutigen Medienzeitalter könnten wir Routinen aufbrechen und grundlegend darüber nachdenken, wie wir das Epochenheft weiterentwickeln, indem wir im Gespräch und in der Zusammenarbeit mit den Jugendlichen die Möglichkeiten individueller Verantwortungsübernahme und freiheitlicher Selbstbestimmung noch tiefer ausloten.

Zur Autorin: Maria-Sibylla Hesse arbeitet als Geschichtslehrerin an der Waldorfschule Potsdam und erforscht, wie Schüler der Oberstufe Geschichte verstehen. Die (pseudonymisierten) O-Töne entstammen den dazu geführten Interviews.