Das Tafelbild – eine antiquierte Waldorfdeko? Gedanken zu einem kollegialen Übungsweg

Mandy Kühle-Truslove, Thomas Verbeck

Begonnen hat unser Gemeinschaftsprojekt mit der schlichten Frage der Jüngeren an den Älteren: »Würdest du mir beim Tafelbild helfen?« – Was wir beide nicht ahnten, war, dass sich beim gemeinsamen Tun ein intensives pädagogisch-künstlerisches Gespräch entwickeln würde. Hier einige Gedanken zu unserer gemeinsamen Arbeit. 

Das Bild im Hintergrund des Lehrers

Die Kinder kommen morgens in die Klasse, begrüßen ihre Lehrerin und die Freundinnen und Freunde. Mit einem schnellen Blick erfassen sie den ganzen Raum, nehmen wahr, was sich verändert hat, betrachten vielleicht das Bild an der Tafel, das sich über Nacht in Nuancen verändert hat. Sie sprechen den Morgenspruch und machen ihre chorisch rhythmischen Übungen. Dabei ist das Tafelbild hinter der Lehrerin zwar sichtbar, wird von den Kindern aber nur peripher wahrgenommen. Es rückt erst nach dem »Arbeitsteil des Hauptunterrichts« wieder ins Blickfeld, wenn die Tafel geschlossen wird, das Bild auf der Vorderseite sichtbar wird und die wache Eigenaktivität des Lesens, Rechnens oder Schreibens dem lauschenden Eintauchen in den Erzählstoff weicht. Die Wirkung des Tafelbildes auf die Seele des Kindes entfaltet sich anfänglich unbewusst. Es nimmt vorerst nur die Farbklänge, vielleicht die Beziehungen zwischen abgebildeten Personen oder Tieren und die Stimmungen wahr, die seine Phantasie anregen. Aufregende oder irritierende Darstellungen würden sich sofort im auffälligen Verhalten der kleinen Kinder spiegeln. Dass Bilder eine unbewusste Wirkung entfalten, wusste man schon von alters her. Man schrieb guten »Tafelbildern« sogar eine heilende Funktion zu, man denke zum Beispiel an den Isenheimer Altar. Todkranke wurden vor sie getragen, um durch den Anblick der Darstellungen Linderung ihres Leides, Heilung oder sogar Genesung an Leib und Seele zu erfahren. Heutige »Tafelbilder« wirken anders: stehend oder bewegt, elektronisch oder gedruckt, brechen sie massenhaft über den Menschen herein, nehmen ihn gefangen und lassen ihn manchmal ein Leben lang nicht wieder los. Digitale Unterrichtsmedien als Alternative zur analogen Tafel ziehen heute vermehrt die fachliche Aufmerksamkeit auf sich und immer mehr in die Schulen ein. Ihnen werden Aus- und Fortbildungen gewidmet. Ihr methodischer Einsatz wird in Konzepten dokumentiert.

Bilder bilden

Die Seele des Kindes lechzt nach Bildern. Das Kind will lernen und durch Bilder lernt es. Das bildhafte Denken, das dem begrifflichen und kausalen Denken vorausgeht, ist noch urteilslos und unvoreingenommen in der Wahrnehmung.

Die von Erstklässlern gemalten Bilder zeigen, dass Himmel und Erde noch deutlich in oben und unten getrennt sind. Dazwischen das Kind, der Baum, das Haus. Die Darstellung wird mit der Zeit vollständiger, farbenfroher, belebter und beseelter. Tafelbilder auf dieser Klassenstufe sollten dem Kind einen Raum eröffnen, in den es sich als kleiner »König in seinem Reich« hineinträumen kann.

Schon in der 2. Klasse, je mehr das Kind sich seiner selbst bewusst wird, gewinnt der Hintergrund eines Bildes an Bedeutung. Die »Vertreibung aus dem Paradies« steht zwar noch aus, doch eine erste Dualität erwacht. Neben dem Reinen und Guten findet das Böse und Gemeine seinen Platz. Im Erzählstoff spiegelt sich dies in den Heiligenlegenden und den Fabeln wider. Beide Seiten zu erfahren ist nötig, um sich dazwischen seiner selbst bewusst werden zu können und eigene Gefühle entstehen zu lassen. Dieser neue Seelenraum will in seiner Breite, Weite und vor allem Tiefe erkundet werden. Farbigkeit in allen Schattierungen belebt die Tafelbilder.

Dann kommt der Rubikon in der 3. Klasse und die Erfahrung der Grenzüberschreitung: Der Mensch ist auf sich selbst gestellt, er muss sich fortan um sich selbst kümmern: das Haus erbauen, den Acker bestellen und sich dazu die elementaren Handwerke aneignen. Jetzt werden die Details auch auf dem Tafelbild wichtig, logisch, eindeutig und klar erkennbar. Das Leben ist keine Spielerei und bedeutet Arbeit.

In der vierten Klasse ist die Zeit gekommen, in der man beginnt, exakt zu beobachten und sich kundig zu machen: die Tiere, die Heimat, die alte Geschichte, die Rechtschreibung … Das Tafelbild kann aus der Perspektive eines Vogels gemalt werden, die Heimat wird von oben betrachtet, der Blick wird geweitet. Der umgebende Raum wird in allen Nuancen wahrgenommen.

Der Fünftklässler reichert weiter Wissen, Erlebnisse, Eindrücke an, vergrößert seinen Überblick, gewinnt einen eigenen Standpunkt und »seine« Sicht auf die Dinge. Dass ein anderer auch einen eigenen Standpunkt und seine Sichtweise hat, ist noch nicht selbstverständlich. Regeln helfen, sich zu verständigen, Klassengesetze und Grammatik ordnen das Zusammenleben und die Orientierung in der Sprache und das gegenseitige Vorlesen von Aufsätzen schult das Zuhören. Das Tafelbild stellt ab jetzt eher thematisch den Epocheninhalt dar, der aktuell in einer Klasse lebt. Es bekommt einen plakativen Charakter, möglicherweise den eines künstlerisch gestalteten Umschlagdeckels als Anregung für den Schüler, vielleicht das eigene Heft entsprechend oder einer eigenen Idee folgend zu gestalten.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der schwarzen Kreide. Sie ermöglicht, ein Detail scharf konturiert und »meisterhaft« hervorzuheben. Das wirkt und sticht heraus. In der Mittel- und Oberstufe ist sie sicherlich ein probates Zeichenmittel. Im Laufe eines Klassendurchgangs wandeln sich so Art und Weise der Darstellung in einem Tafelbild.

Wir haben die Zusammenarbeit als einen kollegialen Übungsweg erlebt, der sich ähnlich einer kleinen Klassenkonferenz verändernd auf die gesamte Unterrichtssituation auswirkt. Wahrzunehmen, wie die Kinder ein »Bild« aufnehmen, es annehmen, vielleicht anerkennend betrachten oder auch etwas dazu sagen, zeigt, ob ich richtig liege in der Art der Darstellung. So verhält es sich eigentlich mit jeder methodischen Unterrichtsaktion.

Tafelbilder sind keine Hexerei

Die Anforderungen, mit denen ein junger Klassenlehrer konfrontiert ist, sind genauso vielfältig wie umfangreich. Permanent steht er im Fokus mit dem, was er sagt, wie er sich darstellt, singt, schreibt oder auch malt. Besonders Letzteres hat die längste Verweildauer vor den Augen der Kinder und verdient damit eigentlich auch die größte Aufmerksamkeit. Streift man durch eine Schule und wirft einen Blick auf die Tafeln, stellen sich hier und da Zweifel ein. Eines sollte allerdings klar sein: An einer aufmerksam gestalteten Umgebung erziehen sich die Kinder.

Ein Tafelbild muss nicht perfekt sein, sodass das Kind nur in Ehrfurcht davor erstarren kann. Die Tafel ist auch kein Bildhalter in einer Ausstellung. Das Bild ist Bestandteil der Lernumgebung des Kindes.

Rudolf Steiner empfiehlt für das Malen schon in der ersten Klasse das zarte Grundieren eines Blattes. Dies mindere den Schreckmoment in der Seele des Kindes, wenn der erste kräftige Farbklecks auf das Blatt treffe. Gleiches gilt auch für den Erwachsenen, der sich dem Medium Tafel übend annähern und ein Bild darauf gestalten will. Wir haben wiederholt die überraschende Erfahrung gemacht, dass mit dem Anlegen des farbigen Malgrunds eine fruchtbare Basis für das sich entwickelnde Gespräch gelegt wurde. Beim Grundieren lösen sich die Angst vor dem Misslingen oder die fixe Vorstellung eines bestimmten Endergebnisses auf. Sich gemeinsam auf diesen Übungsweg zu begeben, weckt individuelle Fertigkeiten beim einzelnen Lehrer, schafft Raum für das kollegiale Gespräch und gibt letztlich Sicherheit. Pädagogisches Handeln wird reflektiert, die Einsatzmöglichkeiten des Mediums werden diskutiert.

Transferleistung: Tafel-Gespräche

In der dritten Klasse war von Noah erzählt worden. Das Bild dazu: die Arche auf dem Meer treibend, der verheißungsvolle Regenbogen und die beiden Giraffen, ihre Hälse aus den Luken streckend, eine Weile in eine Richtung blickend, eine Weile in eine andere Richtung schauend. Allein die Blickrichtungen gaben in der Klasse reichlich Anlass, darüber zu sprechen, was die Giraffen wohl gerade dachten und sähen. Es wurde erzählt, frei geschrieben, Ängste und Hoffnungen wurden formuliert, Erwartungen und Wünsche ausgedrückt … Für ein Mädchen war es wichtig, dass kein Tier zurückgelassen wurde. Es formulierte einfach im Unterrichtsgespräch: »… und die Fische schwimmen mit.«

Ein Tafelbild bietet sich mit der Zeit auch dafür an, dass die Kinder eigene Geschichten in ihren Heften illustrieren. Dabei soll jede präsentierte Leistung gewürdigt, nicht beurteilt werden. Die Kinder dürfen auch gerne von anderen Kindern »abmalen«; es ist ein Ausdruck dafür, dass es Interesse für den Anderen entwickelt, von ihm lernen und sich durch ihn entwickeln will. Um zu lernen, wie man es machen kann, hat die Klassenlehrerin mit den Kindern zusammen ab der 2. Klasse, Schritt für Schritt, das »neue« Tafelbild nachgemalt, ihnen sozusagen ihre Methode vermittelt. In der 3. Klasse sorgten klare Anweisungen für die nötige innere Sicherheit; in der vierten reichte schon die skizzenhafte Anlage, um den individuellen Arbeitsprozess der Kinder zu impulsieren.

Praktische Tipps

Farbperspektive. Die Fähigkeit, diese als solche wahrnehmen zu können, erwacht im Kind in der Rubikon-Zeit, also etwa im Lauf des dritten oder vierten Schuljahres. Bei Bildbetrachtungen werden solche Beobachtungen vereinzelt von Kindern geäußert und dann vielleicht auch von den anderen Kindern wahrgenommen: Das Blau wirkt, als verschwinde es in der Ferne. Das Gelb springt nach vorn aus dem Bild heraus. Das Rot ist irgendwie »dazwischen«. Die Schilderungen hierzu werden mit der Zeit immer präziser. Je nachdem wie Blau, Gelb oder Rot gemalt werden, welche Anteile der anderen Farben sie haben, verhalten sie sich tendenziell immer wieder anders. Nuancen gewinnen an Bedeutung. Rudolf Steiner bringt das Erleben der Farbperspektive in unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausbildung der Lesefertigkeit beim einzelnen Kind.

Immer wieder nass wischen? – Will ich ein neues Tafelbild anlegen, ist es mitunter schlicht ökonomischer, das bestehende Bild einfach zu verändern, Teile trocken wegzuputzen und andere zu belassen und in das Neue
zu integrieren.

Betrachten mit Abstand. – Beim Tafelmalen ist es günstig, immer mal wieder innezuhalten und den mittleren oder hinteren Bereich der Klasse aufzusuchen. Wie wirkt das Bild aus der Perspektive der Kinder? Man erkennt etwas. Das Detail ist dabei in seine Umgebung eingebettet, man sieht, es gehört dahin und ist kein Fremdkörper. Der Baum ist fest verwurzelt und fliegt nicht, das Häschen hockt im Gras und wirkt nicht ausgeschnitten und aufgeklebt.

Die Tafel ist ein Arbeitsmittel, das bewusst eingesetzt werden sollte. Da sie fest installiert ist, steht sie immer da. Mit ihr unterrichtsgestaltend umzugehen ist unsere Aufgabe als Lehrer.

Unser Ansatz ist es, kollegial zu arbeiten, selbst künstlerisch gestaltend zu üben und einander dabei zu helfen, mit dem, was man an Medien hat, bewusst umgehen zu können. Wir wollen jungen Kollegen die Sorge nehmen, ihre künstlerischen Fähigkeiten seien nicht ausreichend, weil sie vielleicht vermeintlichen Qualitätsstandards nicht entsprechen. Junge Lehrer brauchen Mut, um ihre Herausforderungen anzunehmen und Aufgaben zu lösen. Das ist eigentlich elementare fortgesetzte Lehrerbildung. Ausgangspunkt ist manchmal nur die einfache persön­liche Frage: »Kannst du mir helfen?«

Zu den Autoren: Mandy Kühle-Truslove ist Klassenlehrerin der 4. Klasse und Fachlehrerin für Englisch in Remscheid. Thomas Verbeck ist Fachlehrer für Holzwerken in der Mittelstufe, Schmieden und Steinhauen in der Oberstufe und für Englisch in der Unterstufe.