Klassenzimmer

Den Morgenspruch verstehen

Jörg Grießer

An der Waldorfschule auf der Alb in Engstingen gab es eine Schülerzeitung namens Zeitdruck, in der eine Artikelserie zum Thema «Anthroposophisch gesehen» zu finden war. Die Lehrer der Schule wurden gebeten, auf verschiedene Fragen Antworten zu geben. Ich sollte mich zu der Frage äußern: «Warum sprechen wir den Morgenspruch?» 

Der Morgenspruch

Ich schaue in die Welt,
in der die Sonne leuchtet,
in der die Sterne funkeln,
in der die Steine lagern,
die Pflanzen lebend wachsen,
die Tiere fühlend leben,
in der der Mensch beseelt
dem Geiste Wohnung gibt.

Ich schaue in die Seele,
die mir im Innern lebt,
der Gottesgeist, er webt
im Sonn- und Seelenlichte,
im Weltenraum da draußen,
in Seelentiefen drinnen.
Zu dir, o Gottes Geist,
will ich bittend mich wenden,
dass Kraft und Segen mir
zum Lernen und zur Arbeit
in meinem Innern wachse.

Nach der Veröffentlichung meines Textes in der Schülerzeitung bekam ich viele positive Rückmeldungen von den Schüler:innen, wie: «Jetzt spreche ich den Spruch bewusster … das alles hat also mit mir und der Welt zu tun … da spiegeln sich doch alle Unterrichtsfächer wider …». Und ich bemerkte im Gespräch mit den Schüler:innen eine große Offenheit und auch das Interesse, Genaueres über die Hintergründe der Waldorfpädagogik zu erfahren.Im Heft 7/8 2021 erschien in der Erziehungskunst ein Text von Markus von Schwanenflügel mit der Überschrift: «Fremdgeschämt. Wozu sprecht Ihr denn den Morgenspruch?» Dieser Beitrag spricht mir aus der Seele, da auch hier das Bedürfnis der jungen Menschen bemerkt wird, mitgenommen zu werden im Verstehen der besonderen Elemente der Waldorfpädagogik. Der genannte Artikel endet mit folgenden Zeilen: «Ein Anfang könnte sein, im Lauf der Schulzeit Schritt für Schritt gemeinsam mit den Schüler:innen das zu betrachten, was wir mit ihnen getan haben – und zwar vor allem das, was an unseren Schulen anders ist. Damit würden sie gleichzeitig in die Lage versetzt, das, was sie an der Waldorfschule erlebten, kompetenter zu vertreten.»Diese beiden Erlebnisse veranlassten mich, folgenden Versuch in der elften und zwölften Klasse zu beginnenn: In den Coronazeiten der letzten Jahre entschied ich mich in meinen Chemieepochen, nur den Morgenspruch zu sprechen und das sonst übliche Rezitieren durch etwa 15-minütige Betrachtungen zu ihm zu ersetzen. Dabei ging es mir als Naturwissenschaftler vor allem um den ersten Teil des Spruchs, also um die vier Reiche der Natur: Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich. Im gemeinsamen Gespräch entdeckten die Schüler:innen während der Epochentage Schritt für Schritt das Besondere der einzelnen Reiche, aufsteigend vom Mineral- zum Menschenreich.

Am einfachsten war es, das Mineralreich zu charakterisieren. Hier wurde schnell klar, dass es sich um unveränderlichen Stoff, also Totes handelt, das nur den physikalischen und chemischen Gesetzen unterworfen ist.

Beim Pflanzenreich, das die Gesetze der Mineralwelt außer Kraft setzen kann (Stichpunkt: Osmose), ergaben sich im Klassengespräch viele prägende Pflanzenmerkmale wie Fotosynthese, Wachstum, passive Fortpflanzung durch Wind/Insekten, Standortgebundenheit, große äußere Oberflächen. Das Neue, Andere ist also bei den Pflanzen «das Lebendige». Darüber hinaus stellte sich die Grundsatzfrage, wie denn aus unbelebter Materie belebte werden kann. Den heutigen Stand der Wissenschaft und auch andere Denkmöglichkeiten zu der Frage der Entstehung des Lebens zu skizzieren, war dann die Aufgabe des Lehrers. In einer Klasse wurde ich auch direkt gefragt: «Welche Haltung nehmen Sie persönlich bei diesem Problem ein?» An dieser Frage lässt sich ablesen, dass es für Schüler:innen wichtig ist, mit welcher Haltung der Lehrer oder die Lehrerin im Leben steht.

Im Fortschreiten zum Tierreich ergab sich, neben einer ausführlichen Charakterisierung (aktive Fortpflanzung, Eigenbewegung, Triebe, Aggression, große innere Oberflächen bildend …), wieder die Frage, was ist denn das Neue, das die Pflanzen nicht haben? Es wird schnell deutlich, es ist das Innenleben, das sich als Fühlen manifestiert.

Und die spannendste Diskussion entstand dann bei der Frage, ob es auch beim Menschen das Neue, Andere gibt, das ihn vom Tier grundsätzlich unterscheidet oder ist der Mensch nur ein höheres Tier? Bei dieser Frage gab es zwei kleine Lager in der Klasse, die einen meinten, die Unterschiede zwischen Tier und Mensch seien nur graduell, nicht grundsätzlich und die anderen verneinten das. Der größere Teil der Schüler:innenschaft war mit einer Positionierung eher überfordert, aber interessiert dabei. Wir haben dann wesentliche Qualitäten herausgearbeitet (siehe Abbildung), die wir unter dem Überbegriff Geist, als das Neue zusammengefasst haben.

Methodisch ging ich so vor, dass eine der Wandtafeln die gesamte Epochenzeit über für die aufgeschriebenen Ergebnisse der Besprechungen reserviert blieb.

In diesem mit der Klasse besprochenen ersten Teil des Morgenspruchs wird mit wenigen Worten das Charakteristische des jeweiligen Reiches erfasst: lagern, lebend wachsen, fühlend leben und beseelt, dem Geiste Wohnung gibt. Was alles in diesen knappen Ausdrücken liegt, durch die ein ganzer weisheitsvoller Kosmos leuchtet, wird den Schüler:innen jetzt erst wirklich bewusst. Das Sprechen des Spruches (etwa 1.500-mal im Schulleben) kann nun durch ein sinnerfülltes Verstehen begleitet werden und die Pflichtübung am Beginn des Schultages kann zu einem Gefühl der Weltzugehörigkeit führen.

Zum Abschluss war mir wichtig, das in diesen Epochentagen Erlebte mit den Schüler:innen in eine Übersicht zu bringen (siehe Tabelle). Aus den selbst gefundenen Merkmalen der verschiedenen Naturreiche ergibt sich ganz unkompliziert, dass der Mensch ein Schichtenwesen, ein Hüllenwesen ist. Nur als solches ist er wirklich ganzheitlich zu verstehen. Auch kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass der Mensch damit Anteil an der Welt hat, mit ihr verwandt und verbunden ist. Das kann bei den Schüler:innen zu mehr Lebensvertrauen – dieser heute so nötigen Qualität – beitragen.Mit und an der Durchführung dieses Versuchs  ist mir dann noch einmal deutlich geworden, was Rudolf Steiner im sogenannten Oxfordkurs meint, wenn er sagt: «Ich muss es wiederholt und wiederholt sagen: das Waldorfschul-Prinzip ist nicht ein Prinzip, das eine Weltanschauungsschule machen will, sondern eine Methodenschule.» Schüler:innen gegenüber ist also immer zu berücksichtigen, dass es nicht um die Vermittlung einer Weltanschauung geht, sondern um eine Methode, die Welt anzuschauen.

Dr. Jörg Grießer, *1953, Oberstufenlehrer in den Fächern Chemie, Physik und Mathematik an der Rudolf Steiner Schule Berlin-Dahlem und der Freien Waldorfschule auf der Alb (Engstingen), Konzeptentwicklung der Oberstufe mit dem Großen Betriebspraktikum in Engstingen. In seiner Freizeit ist Grießer leidenschaftlicher Imker und Bienenfotograf.

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