Der Arachne-Mythos. Zwischen Ego und sozialer Anerkennung

Thomas Peek

Wenn bereits vor dem Morgenspruch Spinnen entdeckt werden, ist die Aufregung in der Klasse groß. Ihr bloßer Anblick reicht, um bei manchen Kindern panisches Geschrei auszulösen. Der Lehrer beschwichtigt wort- und gestenreich und einige Mutige werden sofort versuchen, die Spinnen zu fangen und draußen wieder auszusetzen. Natürlich ist allen bekannt, dass man sich hierzulande nicht vor Spinnen zu fürchten braucht. Doch die Angst liegt tiefer. Die Arachnophobie – die Angst vor Spinnen – ist weit verbreitet, auch bei Erwachsenen. Um ihr entgegenzuwirken, arbeiten moderne Psychologen mit Konfrontationstherapien. Zunächst wird über Spinnen gesprochen, dann werden Bilder betrachtet, in einem nächsten Schritt wird mit der räumlichen Annäherung begonnen, bis schließlich auch lebendige Spinnen angefasst werden können. Doch ein Blick auf den namengebenden Arachne-Mythos und ihren Wettstreit mit der Göttin Athene kann helfen, das dahinterstehende seelische Bild besser zu fassen.

Arachne und Athene

Die Erzählung behandelt existenzielle Daseinsfragen. Seltsamerweise findet sie in den gängigen Schulbüchern zur griechischen Sagenwelt kaum Erwähnung. In Versform schildert der römische Dichter Ovid um die Zeitenwende im 6. Buch seines Werkes »Metamorphosen« folgende Geschichte.

Arachne war ein Kind armer Leute in dem Dorf Hypaipa. Ihr Vater war ein bekannter Färber. Die Mutter starb früh. Die Halbwaise machte sich nützlich und half beim Färben der Wolle. Vom Vater erlernte das Mädchen die Techniken der Wollbehandlung. Arachne war geschickt und das Lob des Vaters wurde ihr immer wichtiger. Sie wollte die Beste und unersetzlich sein. Bald wurde sie bis in ferne Städte als »erstaunliche« Weberin von »ungewöhnlich zierlichen Arbeiten« gerühmt. Ihre Werkstücke machten Hypaipa zu einem besonderen Markt für exquisite Stoffe. Man meinte, die Künstlerin müsse ihr Können von Athene, der Göttin der Weberei, erlernt haben, anders ließen sich eine solche Kunstfertigkeit und Begabung nicht erklären. Arachne genoss die Bewunderung ihrer von weither angereisten Kundschaft. Doch sie fühlte sich nicht von den Göttern begnadet,sondern wusste, dass ihre Kunst das Ergebnis eigener harter Arbeit war.

Eine schicksalhafte Herausforderung

Immer lauter ging das Gerücht, Arachnes Können verdanke sie Athene – eine unerträgliche Situation. Schließlich ereiferte sich die junge Frau: »Ruft Athene zu einem Wettstreit! Wenn sie mich schlägt, will ich alles erdulden!«

Die Göttin erschien Arachne als alte, auf einen Stock gestützte Frau und sprach: »Das Greisenalter bringt auch Gutes mit sich, denn mit den Jahren reift die Erfahrung. Glaube nur, dass du die Wolle kunstvoller weben kannst als jeder Sterbliche, aber erhebe dich nicht über eine Göttin! Flehe sie lieber um Verzeihung an, dann wird dir gerne vergeben …« Der Tonfall des »Ich kenne das Leben, ich weiß Bescheid. Du bist noch unerfahren und brauchst Belehrung« reizte Arachne zum Widerstand. Zornig entgegnete sie: »Arm an Verstand kommst du daher, geschwächt durch dein Alter! … Predige anderen solches Geschwätz! … Wieso kommt Athene nicht selber, weshalb vermeidet sie einen Wettstreit?« Erbost erwiderte die Göttin: »Sie ist bereits gekommen!« Die Gestalt der Alten verwandelte sich zurück in Athene. Arachne erschrak und erbleichte, die umstehenden Nymphen verneigten sich ehrerbietig. Der Wettstreit, in dem sich Arachne nicht nur als Beste unter Menschen erweisen, sondern auch im Kampf mit einer Göttin siegen wollte, war unvermeidlich.

Wettkampf mit doppeltem Boden

Die gewebten Motive beider unterschieden sich grundlegend. Athene gestaltete Bilder ihrer eigenen Vortrefflichkeit. Wie sie Athen gründete, wie sie in prachtvoller Rüstung daherschritt. Es folgten abschreckende Beispiele, die zeigten, wie Götter Übermütige straften. Schließlich umrahmte Athene ihre Motive mit Zweigen des Ölbaumes, dem universellen Zeichen des Friedens. Trotz ihres kämpferischen Auftrittes und in dem Bewusstsein, dass sie als Göttin einen Kampf nicht verlieren konnte, war sie gewillt, Frieden zu schenken.

Dagegen brachte Arachne ihre kritische Einstellung gegenüber der olympischen Götterwelt in ihren Bildern deutlich zum Ausdruck. Sie webte eine lange Reihe skandalöser Darstellungen, in denen die Götter Mädchen verführten oder sich Frauen einfach nahmen, ohne sich um ihr späteres Schicksal zu kümmern. In ihren Bildern klagt die Künstlerin die Willkür und den Machtmissbrauch der Götter an.

Schließlich standen fünf kunstvolle Bilder von Athene einundzwanzig nicht weniger kunstvollen Bildern von Arachne gegenüber. Das Ergebnis schien eindeutig und Arachne hätte höchstes Lob verdient. Doch genau dazu durfte es nicht kommen. Die Doppelbödigkeit des Wettkampfes wird immer deutlicher. Dem Leser wird langsam bewusst, dass der Zweikampf einem Wunschbild galt. Arachnes ganzes Können nutzte der jungen Frau nichts, denn der eigentliche Kampf wurde um ihr einzigartiges menschliches Wesen geführt. Arachne hatte nie die Erfahrung gemacht, als Mensch anerkannt zu werden, sondern nur als perfektionistische Könnerin, die sich keinen Fehler verzieh.

Wie zum Beweis reagierte Athene auf zutiefst menschliche Weise. Sie zerriss Arachnes Teppich. Anschließend schlug sie der jungen Frau mit ihrem Webschiffchen auf die Stirn. Verzweifelt band sich Arachne einen Strick um den Hals. Bevor der sich allerdings zuziehen konnte, sprang Athene hinzu und bespritzte die Unglückliche mit einem Eisenhut-Gemisch.

»Es schwand ihr sogleich das Haar, es schwanden ihr Nase und Ohren … Winzig wurde der Kopf, sie schrumpfte am Körper. Magere Fingerchen hingen an Stelle der Beine zur Seite … Doch siehe, ihr entquoll ein Faden: Die Webkunst übte sie nun als Spinne …« So wurden Arachne und ihre Nachkommen dazu verdammt, ewig zu weben und an Fäden zu hängen.

Werde ich oder nur mein Können anerkannt?

Die bekannteste erhaltene antike Darstellung des Arachne-Mythos ist auf einem Relief am Nerva-Forum in Rom zu sehen. Erhalten sind mehrere Szenen auf über 25 Metern Länge. Wenn dort während der Kunstfahrten mit Zwölftklässlern die Arachne-Sage entdeckt wird, stellen sich zwangsläufig Fragen nach ihrem tieferen Sinn. Handelte Athene wirklich aus Mitleid, wie Ovid behauptet? Jedenfalls versuchte die Göttin gleichzeitig zu retten und zu strafen. Arachne suchte hingegen Anerkennung von jemandem, den sie gleichzeitig fürchtete und mit Vorwürfen überhäufte.

Vor dem Fries am Nerva-Forum fragte eine Zwölftklässlerin: Besteht bei zu großem Selbstvertrauen denn nicht die Gefahr von Selbstüberschätzung? Die Geschichte der Arachne zeige doch, wohin maßloser Ehrgeiz führe. Im Gespräch unterschieden wir Menschen, die eine positive stabile Grundeinstellung zu sich selbst haben von Menschen mit mangelndem Selbstwertgefühl, die stark auf sich selbst bezogen sind, mit wenig Empathie und passivem Liebesbedürfnis, auf der ständigen Suche nach Bestätigung.

Als soziales Wesen hängt der Mensch in seiner Einstellung zu sich selbst maßgeblich davon ab, was andere Menschen über ihn denken und sagen. Zu spüren, man glaubt an mich, bestärkt und beflügelt jeden Menschen. Fühle ich mich individuell anerkannt, wächst mein Selbstvertrauen und wird als Selbstwirksamkeit erlebt, das erfährt jeder Lehrer täglich in seinem Unterricht.

In der herbstlichen Morgenfrühe glitzern Tautropfen an den gesponnenen Spinnennetzen. Mit fortschreitendem Tag werden diese Kunstwerke wieder unsichtbar. Ihre Webkunst lernen Spinnen nicht von den Eltern oder Lehrern, sie ist ihnen angeboren. Jede Spinne baut ihre Netze ohne Anleitung auf die gleiche Weise und dennoch gleicht kein Netz dem anderen.

Das Schicksal der Arachne ist eine Reminiszenz, die in unserer Seele als Angst vor Spinnen wohl noch nachklingt, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass man sich in der sozialen Anerkennung genauso verlieren kann, wie im eigenen Ego.

Zum Autor: Thomas Peek ist Klassenlehrer an der Ita Wegman Schule in Benefeld

Literatur: Ovid: Metamorphosen, Reclam Ausgabe 1982 | U. Reinhardt: Arachne und die Liebschaften der Götter, Freiburg 2015