Deutsch als Vertiefungssprache

Katrin Höfer

Die Förderung und Pflege der deutschen Sprache ist eines der wichtigsten Anliegen der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim, denn Sprachdefizite sind einer der Hauptgründe für die Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund. Eine solide sprachliche Grundlage ist eine sehr wichtige Voraussetzung für das gesamte Lernen. Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler sprechen Deutsch nicht als Muttersprache, sondern als Zweitsprache. Es hat sich gezeigt, dass die Pflege und Anwendung der deutschen Sprache im Hauptunterricht nicht ausreicht, um alle Kinder bis in die Schriftsprache hinein genügend zu fördern. Die große Heterogenität in den Klassen erfordert neue Konzepte. Seit sieben Jahren wird deshalb das Fach »Deutsch als Vertiefungssprache« (DaV) von der ersten bis zur elften Klasse unterrichtet. Hier werden in der Unter- und Mittelstufe unter anderem gezielt Wortschatzfelder für Sachkunde-Epochen und Grammatikthemen für Sprachlehre-Epochen für den Hauptunterricht vorbereitet.

Die Frühstückspause ist beendet. Die Tür des kleinen, aber gemütlichen Sprachraumes springt auf und elf muntere Viertklässler betreten fröhlich den Raum. Viele der Kinder sind in Deutschland geboren, ihre Eltern stammen aber zumeist aus Ländern wie Marokko, dem Irak, der Ukraine, Rumänien und der Türkei. Allen Kindern gemeinsam ist die Tatsache, dass sie sich bisher noch nicht sicher in der deutschen Sprache beheimaten konnten. Wie in den meisten DaV-Gruppen der Interkulturellen Waldorfschule befinden sich aber auch hier Kinder, deren Eltern deutscher Herkunft sind. Sie bedürfen ebenfalls einer gezielten Vertiefung auf bestimmten Gebieten der deutschen Sprache.

Die Viertklässler stellen sich im Halbkreis vor der Tafel auf. Die Lehrerin begrüßt die Kinder und spricht gemeinsam mit ihnen einen Anfangsspruch, in welchem schon zu Beginn die wichtigsten Präpositionen des Ortes genannt und durch Gesten dargestellt werden.

Alle setzen sich, es folgt ein zweiter Spruch. Während des Sprechens darf Maria »als Lehrerin« auf dem Bildplakat an der Tafel zeigen, worum es inhaltlich geht. »Sankt Johannes hat ein Schloss. Bei dem Schloss ist ein Garten. In dem Garten steht ein Baum. An dem Baum ...«. Es sind wieder Präpositionen des Ortes, dieses Mal mit Dativergänzungen.

Ein weiteres humorvolles Gedicht, in welchem durch lustige Reimkombinationen ebenfalls Ortsangaben mit Dativ erklingen, schließt sich an. Hier wird sogar der Gebrauch des Possessivartikels »mein« implizit mit geübt: »Über meiner Wiege fliegt eine Fliege. Neben meinem Regal lagert ein Wal. Zwischen meinen Pflanzen tanzen zwei Wanzen ...«. Nun ist ein anderes Kind an der Reihe: Shenay begleitet den gemeinsam gesprochenen Spruch, indem sie auf dem Tafelplakat die jeweils genannte Situation anzeigt. Daraufhin deutet sie auf einige Bilddetails und fragt dadurch die motivierten Kinder noch einmal einzeln ab.

Im darauffolgenden Lied findet eine weitere Steigerung der benutzten sprachlichen Formen statt. Anschaulich und lustig wird hier eine Schatzsuche in einer Burg beschrieben: »…Geh in die Waffenkammer. – Ich bin in der Waffenkammer. – Schau hinter das Visier. – Ich seh’ alles hinter dem Visier...« Begeistert singen die Kinder mit. Es erklingen Ortsangaben mit Dativ und Akkusativ und genau diese sprachliche Struktur wird daraufhin direkt bei einer Schatzsuche im DaV-Raum erprobt. Fröhlich und gespannt schicken die Kinder eine Mitschülerin durch den Raum: »Schau hinter den Schwamm!« – »Ich sehe alles hinter dem Schwamm!«

Natürlich darf am Schluss der wohlverdiente Schatz nicht fehlen!

Onur hat während der gesungenen und gespielten Schatzsuche ein Plakat vor sich liegen, worauf farblich unterschieden die Verwandlung der verschiedenen Artikel im Nominativ, Dativ (auf die Frage WO) und Akkusativ (auf die Frage WOHIN) stehen. Die Namen der Fälle erfahren die Kinder aber erst in der fünften Klasse, wenn die Deklination thematisiert wird. Konzentriert, aber mühelos zeigt Onur mit einem Stock auf die farbigen Artikelwörter: den – dem; die – der; das – dem; die – den in der Reihenfolge, wie sie in dem Lied erklingen. Nachdem er seine Aufgabe wunderbar gemeistert hat, meint er fröhlich: »Frau Höfer, ich mache das gern, ich mache das zu Hause auch immer so!«

Im anschließenden schriftlichen Arbeitsteil des Unterrichtes wird das zuvor mündlich Erprobte ins Schriftliche übertragen. Jedes Kind hat in der vorherigen Stunde mit großer Begeisterung und Liebe zum Detail ein Bild gemalt und ist nun eifrig dabei, nach der Struktur des oben genannten Spruchs (Sankt Johannes hat ein Schloss...) ein eigenes Gedicht zu schreiben (Generatives Schreiben). Onur sucht sich einen Tisch, an dem seine sieben Stiftemäppchen Platz finden, er baut sie um sich herum auf und fängt an, sein Gedicht zu vervollständigen. Sein Bild zeigt eine Edelsteinhöhle mit vielen glitzernden Kristallen und zwei Banditen. Andere Kinder haben eine Burg, einen Hundedressurplatz, eine Unterwasserwelt, eine Ferieninsel oder ein Paradies gemalt. Alle Bilder weisen viele phantasievolle Details auf, um daraus möglichst viele Sätze mit verschiedenen Ortsangaben formulieren zu können. Die im Gedicht angelegten richtigen sprachlichen Strukturen werden nun gezielt genutzt, um selbst kreativ und korrekt sprachlich schöpferisch tätig zu werden. Hier entstehen wunderbare Ergebnisse, die sich hören und sehen lassen können und auf welche die Viertklässler zu Recht stolz sind. In einer kleinen Ausstellung werden die entstandenen Plakate in den nächsten Wochen im Schulflur zu bewundern sein.

Der Gebrauch der Präpositionen stellt besonders für mehrsprachig aufwachsende Schüler oftmals eine große Herausforderung dar. Das liegt einerseits daran, dass die Prä­positionen nicht einfach von einer Sprache in die andere übersetzt werden können, andererseits muss mit dem Erlernen der Präpositionen gleichzeitig implizit der richtige Gebrauch des deutschen Kasussystems geübt und beherrscht werden. Welcher Fall folgt auf welche Präposition? Im mündlichen Gebrauch werden die Präpositionen oftmals einfach weggelassen und durch Zeigegesten ersetzt. So werden im DaV-Unterricht die Präpositionen schon seit der ersten Klasse auf sehr vielseitige Weise in verschiedensten Sprüchen, Liedern und Spielen erprobt und geübt, um die richtigen sprachlichen Formen ins Ohr zu bekommen. Erst jetzt, in der Vorbereitungsphase auf die Sprachlehre-Epoche der vierten Klasse, wird das Thema aber ins Bewusstsein gehoben, benannt und analysiert.

Die Stunde ist um, die Viertklässler werden gebeten, zusammenzupacken. Einige Kinder sind noch nicht fertig. »Oh manno!«, ruft Onur enttäuscht. »Ihr dürft am Montag weitermachen«, tröstet die Lehrerin. Onur steckt seinen Geldbeutel in die Hosentasche, nimmt seine sieben Mäppchen und schlüpft aus der Tür.

In der folgenden Woche wird der Klassenlehrer die Sprachlehre-Epoche zu den Präpositionen im Hauptunterricht beginnen. Wer hier selbstbewusst und fröhlich als »Meister«, »Sprachversteher« und »Sprachkönner« auftreten wird, steht schon jetzt fest: elf muntere Viertklässler, die sich das Thema bereits intensiv zu eigen gemacht haben!

Zur Autorin: Katrin Höfer ist Deutsch- und Förderlehrerin an der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim und auch in der DAZ-Fortbildung tätig. Autorin der lautgetreuen Lesebücher »Die ganze Welt ist kunterbunt«.

Literatur: C. Adam, A. Schmelzer (Hrsg.): Interkulturalität und Waldorfpädagogik, Weinheim 2019 | L. Kauffeldt u.a.: Dschungeltanz und Monsterboogie. Singen und Spielen mit Sprache, Baltmannsweiler 2014