Die Erde ist keine Karte. Sechstklässler bauen ihren Globus

Sven Saar

Als Kind wurde mir – und vermutlich geht es den meisten Menschen so – die Erde zunächst per Karte vermittelt. Sicher wurde dazu gesagt, man müsse sich die Sache »rund denken«, und es gab auch den einen oder anderen Globus, aber gearbeitet wurde im Klassenzimmer mit flachen Karten, auf die die Erde zweidimensional projiziert wurde. Bis heute geht es mir so, dass ich mir Kanada links oben auf der Karte vorstelle, Australien rechts unten. Mitteleuropa ist in meinem Alltagsbewusstsein irgendwo etwas oberhalb der Mitte. Das heißt, meine mentalen Bilder sind noch nach Jahrzehnten von meinen ersten Begegnungen mit schulischen Repräsentationen der Welt geprägt. Muss das so sein?

Vor vierzig Jahren war die Welt noch um einiges größer. Zumindest für heranwachsende Menschen hatte die Erde große weiße Flecken. Man kannte nicht viele außereuropäische Kulturen, und hatte wenig Möglichkeiten, ihnen zu begegnen.

Für Kinder unserer Zeit ist die fremde Welt, sei es durch exotische Urlaube oder durch Fernsehdokumentationen und Spielfilme, näher gerückt. Also sollte man ihnen auch ein Bild dieser Erde als Ganzes vermitteln, das so unverzerrt wie möglich ist. Wer im Bilde der Welt – so meine Hoffnung – von Beginn an als einer Kugel begegnet, der muss sie sich dann eben nicht ein Leben lang »rund denken«.

Die Erde – ein Wasserball

Ein Wasserball war die »Urform« für unseren Erdglobus: prall aufgeblasen wurde er mit Vaseline bestrichen, in Küchenfolie eingewickelt und dann mit Pappmaschee bedeckt.

Nach dem Trocknen wurde weiße Grundfarbe aufgetragen, der Äquator festgelegt und es kam die erste Herausforderung: die Einteilung der großen Kugel in Längen- und Breitengrade. Mit Maßband, Bleistift und vor allem Radiergummi waren wir am Ende der zweiten Woche so weit, dass wirklich alle Linien stimmten und die Kontinente aufgezeichnet werden konnten.

Nun begann die Partnerarbeit: Vom Lehrerglobus abgepauste Schablonen der Kontinente mussten ausgeschnitten und dann anhand von Koordinaten auf die eigene Erdkugel gezeichnet werden. Jetzt war die Vorstellungskraft gefordert: Wie weit sind die Landmassen voneinander entfernt, wie groß sind die Ozeane, wie weit erstreckt sich Amerika nach Süden und Asien nach Norden? Kann man die Beringstraße erkennen, welche Bergzüge sind am prominentesten und so weiter.

Bevor es ans Ausmalen gehen konnte, mussten noch viele Inselstaaten frei Hand eingetragen werden, was zu Diskussionen führte: »Du hast Madagaskar vergessen!«, »Dafür ist bei dir Großbritannien neben Spanien!«, »Aus wie vielen Inseln besteht Japan eigentlich?« …

Hält man den fertigen Globus dann in der Hand, staunt so mancher: »Guck mal, wo Deutschland ist, wenn man den Südpol nach oben hält. Ist ja fast am Nordpol!« Genau, wir liegen nun mal nicht ungefähr in der Mitte. Wo die ist, kommt immer auf den Standpunkt an, und den kann man durch Drehen und Wenden seiner Erdkugel eben ständig verändern.

So setzt man sich in ein lebendigeres, realitätsnaheres Verhältnis zur Welt, als wenn man sich in das Zentrum einer Weltkarte projiziert. Am letzten Tag der Epoche tragen die Schüler und Schülerinnen stolz ihr oft mühsam errungenes Endprodukt nach Hause. Den eigentlichen Lerninhalt tragen sie von nun an hoffentlich in ihrem global trainierten Denken.

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.