Peripherie

Die Kunst des Musizierens

Wolfgang Seel

Man braucht kein pädagogisches Konzept, um Kinder an Instrumente heranzuführen. Kommt meine siebenjährige Enkeltochter aus der Schule in unser Wohnzimmer, ergreift sie als erstes ein Instrument, um auszuprobieren, welche Töne es zum Klingen bringen kann, manchmal spielt sie auch ein Lied, das sie gerade im Unterricht gelernt hat.

Die Welt ist Klang. Alle Materie befindet sich in Schwingung. Kinder verstehen das intuitiv. Sie erleben die Welt als lebendiges, beseeltes Wesen. Das Schwingen und Tönen der Materie auszukundschaften, ist für sie offensichtlich eine faszinierende Erfahrung.

Die Herkunft der Choroi-Instrumente

Vor rund 50 Jahren gab es im Umfeld der Waldorfpädagogik praktisch keine für Kinder taugliche Instrumente. Musiklehrer mussten auf das Orff-Instrumentarium oder auf selbst hergestellte bzw. einfache Instrumente aus fremden Kulturen zurückgreifen.

Es ist den Pionieren der Musikpädagogik um Pär Ahlbom (Schweden), Julius Knierim (Deutschland) und Norbert Visser (Holland) zu verdanken, dass wir heute über ein vielfältiges Instrumentarium für Musikpädagogik und Musiktherapie verfügen. Damit diese Instrumente in einem angemessenen Umfeld hergestellt werden können, gründete Norbert Visser zusammen mit Bernhard Lievegoed die Stiftung: Kind und Instrument die später in Choroi-Association umbenannt wurde.

Alle Choroi-Instrumente werden in gemeinnützigen, sozialtherapeutischen Werkstätten entwickelt und hergestellt. Dabei stehen nicht privatwirtschaftliche Interessen im Vordergrund, sondern das Bedürfnis nach neuen, bisher ungehörten, pädagogisch und therapeutisch wirksamen Klängen.

Ihr Klang

Die Natur ist erfüllt von Geräuschen und Klängen, wie dem Rauschen des Windes in den Baumkronen oder dem Knirschen des Sandes unter unseren Schuhen. Auch Choroi-Instrumente sollen mit ihrem Klang ein elementares Erleben der Materie vermitteln. Zu Instrumenten, die im Bereich der traditionellen, nicht-westlichen Musik zu finden sind, besteht jedoch ein fundamentaler Unterschied. Auf Choroi-Instrumenten kann auch moderne Musik gespielt werden. Helle, klare, eher konsonantisch anmutende Töne ertönen aus ihnen. Sie sprechen leicht an, ihr Klang erfüllt den Umraum und geht nicht punktuell vom Instrument aus. Durch die besondere Quintenstimmung der Töne, die sich nach unseren westlich geprägten Hörerfahrungen harmonisch zueinander verhalten, regen sie zum Improvisieren an und ermöglichen es den Kindern, in einer sehr natürlichen, spielerisch einladenden Weise erste Klangerfahrungen zu machen. Staunend kann so der Klangreichtum der Materie erlebt werden.

Jeder, der Kinder beim spontanen Musizieren beobachtet, kann wahrnehmen, wie ihnen nicht so sehr die Reinheit des Tones oder die exakte Stimmung der Instrumente wichtig ist, als vielmehr das elementare Erfahren des Klanges.

Quinten-Stimmung

Die Quinte definiert sich durch einen Tonabstand von sieben Halbtönen vom Grundton zu dem das Intervall erzeugenden darüber liegenden Ton, also beispielweise: d – a oder e – h.

Der Musikpädagoge Gerhard Beilharz hat erläutert, dass der Quinten-Raum dem musikalischen Erleben der Kinder im ersten und am Anfang des zweiten Lebensjahrsiebts in besonderer Weise entspricht und sehr gut geeignet ist, eine erste Begegnung mit der in unserer Kultur lebenden Musik zu ermöglichen.

Auf der Kinderharfe und Pentaton-Flöte ist die spielbare Tonskala wie folgt gestimmt:

(D – E – G – A – h(b) –  d – e)

Es fällt auf, dass in dieser Skala keine Halbtonschritte auftreten. Im Zusammenspiel mit zwei pentatonisch gestimmten Instrumenten ist es also nicht möglich, die – zunächst als unharmonisch erlebte – kleine Sekunde zu spielen. So erzeugen zwei Kinder, die pentatonische Instrumente spielen, beim Improvisieren immer einen Wohlklang.

Das D ist im beschriebenen Fall der tiefste Ausgangston, die spielbare Skala umfasst sieben Töne. In ihrem Zentrum steht das A. Um sie spiegeln sich eine Quinte nach unten (a’ – d’) und eine Quinte nach oben (a’ – e’’). Der Gesamtumfang der spielbaren Töne umspannt also eine doppelte Quinte. Dies eröffnet – etwa bei der Begleitung von Kinderliedern – die Möglichkeit, einen eigenen musikalischen Kosmos  erfahrbar zu machen.

Kinderharfe und Pentaton-Flöte (Quinta)

Im Folgenden möchte ich auf die in der Praxis der Waldorfschulen, -kindergärten und heilpädagogischen Einrichtungen am weitesten verbreiteten Choroi-Instrumente eingehen. Instrumente wie die Primleier und das Carellion, die auch sehr geeignet für das Musizieren in Quintenstimmung sind, werden hier nicht berücksichtigt, sollten aber nicht unerwähnt bleiben.

Die Kinderharfe

Die Kinderharfe entstand aus dem Bedürfnis, ein einfaches, auch für Kinder spielbares Saiteninstrument zu schaffen. In ihrer Form kann man eine im oberen Bogen langgezogene Lemniskate erkennen. Statt eines geschlossenen Resonanzraums ist die untere Schleife der Lemniskate zu einer offenen Schale geformt, so klingt der Ton der Harfe zart und peripher und das Zusammenspiel mehrerer Kinderharfen fügt sich zu einem harmonischen Gesamtklang.

Die Pentaton-Flöte (Quinta)

Die Pentaton-Flöte ist das am weitesten verbreitete Choroi-Instrument. In den Telleby Verkstäder in Järna (Schweden) werden jährlich bis zu 20.000 dieser Instrumente hergestellt. In Waldorfschulen der ganzen Welt wird die Flöte als Instrument eingesetzt, mit welchem die Schüler im Unterricht ihre erste Klangerfahrung machen. Sie ist aus Birnenholz gefertigt, hat ein kleines, besonders geformtes, eher schmales Labium sowie eine zylindrische Bohrung des Flötenrohres.

Wir leben – besonders in unseren Städten – in einer lauten, rastlosen Zeit. Unsere Sinne werden von künstlich erzeugten Reizen überflutet und finden oft keinen Zugang mehr zu den natürlichen Klängen unserer Welt. Stress und Anspannung werden dadurch verstärkt und gefährden die Gesundheit der Menschen. Es scheint mir von entscheidender Bedeutung, junge Menschen an die Welt des Klanges behutsam heranzuführen und ihnen Instrumente zur Verfügung zu stellen, die ihrem Tonempfinden entsprechen und Freude am Musizieren vermitteln können. Damit kann Musikerziehung einen Beitrag für die gesunde Entwicklung des Menschen leisten.

Youtube: www.youtube.com/watch?v=ZCbSDDvd9fs

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