Die Zwillingsklassen

Timo Nattermann

Als ich mit meiner damals ersten Klasse im Herbst das Lied »Der Wind streicht übers weite Land« gesungen und mich dazu bewegt habe, ist mir bewusst geworden, wie unterschiedlich Kinder sein können. Ganz nach Murphys Gesetz ist alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte. Und das war wunderschön zu beobachten. Manche Kinder rasten und tobten, andere machten kaum mit, ein Kind weinte, eines versteckte sich, zwei weitere lenkten sich gegenseitig ab ... Es war auffällig zu sehen, welche Verhaltensvielfalt Kinder aufbringen können und wie intensiv sie darin aufgehen. Und es war schön festzustellen, wie einzigartig jedes Kind sein kann. Doch ich stellte mir ebenso die Frage, wie ich bei einer solchen Verschiedenartigkeit noch die Möglichkeit habe, auf jedes Kind individuell einzugehen.

Wir haben in den letzten Jahren an unserer Schule eine Zunahme unterschiedlichen Verhaltens bei Kindern beobachten können. Nach unserer Auffassung bringt die jetzige Generation an Schülern etwas ganz Eindrucksvolles mit. Die Kinder zeigen beispielsweise eine breitere Spanne an Temperamenten. Die kindliche Natur ist üblicherweise lebhaft und verspielt. Jedoch begegnen uns heute immer mehr analytische und nachdenkliche, beherrschte und genügsame oder auch energische und selbstständige Kinder – und das bereits in der ersten Klasse. Wir beobachteten vermehrt gefühlsstärkere Kinder, die ihren Emotionen auf ganz unterschiedliche Art und Weise Ausdruck verleihen: überschwängliche Freude, unbändige Wut oder feinste Sensibilität. Aber nicht nur das: Laut Gesundheitsberichten steigt auch das Maß an psychischen Auffälligkeiten bei Kindern. Die Rede ist von Sprachförderbedarf, Angststörungen, sozialer Phobie oder ADHS. Dies kann auf verschiedenste Ursachen zurückgeführt werden, wie etwa wachsenden Individualismus, mehr Freiheiten, Digitalisierung und technologischen Wandel. Ein menschenkundlicher Umgang mit diesem Zeitphänomen muss von Pädagogen und Didaktikern erst gelernt werden. Denn die Folge ist, dass die verschieden ausgeprägten Charaktere diverse Verhaltensmuster aufweisen und ausleben, die in der Vielzahl von einzelnen Pädagogen gar nicht mehr aufgefangen werden können. Diese Diversität übersteigt die Kapazitäten der Fachleute. Und die individuelle Förderung, wie wir sie an Waldorfschulen pflegen, kann bei Großklassen mit bis zu 40 Kindern kaum mehr Bestand haben. Die Waldorfschule Vaihingen an der Enz hat sich in den letzten Jahren vermehrt mit diesen Tatsachen und Aufgabenstellungen in ihren pädagogischen Konferenzen beschäftigt und im Rahmen der menschenkundlich-pädagogischen Auseinandersetzung mit den Phänomenen das Zwillingsklassenkonzept entwickelt, um auch weiterhin jedes Kind individuell fördern zu können.

Das Zwillingsklassenkonzept basiert auf folgendem Grundsatz: Es existiert eine Klasse, die verteilt auf zwei Klassenkörper von jeweils einem eigenen Klassenlehrer oder einer Klassenlehrerin in einem jeweils eigenen Raum unterrichtet wird. Der Unterschied zu Parallelklassen ist, dass die Zwillingsklassen nicht nebeneinander existieren, sondern ausschließlich zusammen Bestand haben. Pausen, Projekte, Veranstaltungen, teilweise das musisch-rhythmische Arbeiten oder der Hauptunterricht werden gemeinsam gestaltet. Ab der zweiten Klasse findet auch der Fachunterricht in aus beiden Klassenteilen bestehenden gemischten Gruppen statt. Die beiden Lehrer der Zwillingsklassen arbeiten eng zusammen. So werden Unterrichte, Projekte und andere Aktivitäten gemeinsam geplant und es entstehen ganz neue Möglichkeiten für den schulischen Alltag.

Eine Großklasse aus Kleinklassen

Es gibt mehrere Gründe, warum an vielen Waldorfschulen Großklassen mit bis zu 40 Kindern existieren und die sind keinesfalls wirtschaftlicher Natur. In einem großen Klassenkörper herrscht absolute Heterogenität. Viele verschiedene Charaktere treffen dort aufeinander. So entsteht ein reichhaltiges soziales Klima. Eine größere Klasse bietet mehr Möglichkeiten für soziale Erfahrungen: mehr Freundschaften, mehr Auseinandersetzungen, die eine weitreichende soziale und emotionale Entwicklung fördern. Durch diese alltäglichen Begegnungen kann das Kind im Erleben anderer erfahren, wer es selbst ist. Diese Selbsterfahrung ist maßgeblich für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung.

Im Zwillingsklassenkonzept gehen diese Vorzüge der Großklasse nicht verloren. Auch wenn der jeweilige Klassenleib bloß aus 20 Kindern besteht, lebt das einzelne Kind in der Einheit beider Klassengruppierungen. Zusätzlich profitiert es von den Vorzügen kleiner Klassen, wie der individuellen Betreuung und der Möglichkeit, mehr »aus sich heraus kommen« und sich am Unterrichtsgeschehen beteiligen zu können. Darüber hinaus können die Lehrer den Unterricht in kleinen Klassen individueller gestalten und dabei auf jedes Kind eingehen. Dadurch entstehen deutlich bessere Lern- und Erziehungsbedingungen. Zusätzlich kann bei der Förderung einzelner Kinder immer eine weitere Lehrkraft hinzugezogen werden. Genauso profitieren die Schüler davon, denn wer zwei Klassenlehrer hat, hat auch zwei Vorbilder, von denen gelernt werden kann.

Zusammenarbeit der Klassenlehrer

Beide Lehrkräfte der Zwillingsklassen planen das gesamte Schuljahr von den Epochen und ihren Inhalten über musisch-rhythmische Bestandteile bis hin zu Schulveranstaltungen gemeinsam. Einerseits kommt dadurch ein vielfältigeres Portfolio an Ideen zusammen. Andererseits kann die Arbeit geteilt werden, was wertvolle Zeit einspart. Beide können so ihre Talente geltend machen. Ein Beispiel: Meine »Zwillingsklassen-Kollegin« ist Kunstlehrerin, ich Sportlehrer. Zusammen schaffen wir eine gelungene Kombination aus Kunst und Bewegung für die Kinder. Übrige Zeit geht allerdings an anderer Stelle verloren. Denn die Kommunikation miteinander ist ein Schlüsselpunkt für den Erfolg des Zwillingsklassenkonzepts. Zeitintensive Absprachen sind also unumgänglich. Gleichwohl birgt diese neue Form der Zusammenarbeit trotz zeitlichem Nullsummenspiel für die beiden Kollegen ein gesteigertes soziales Klima und eine Entlastung für manchmal stressige Situationen. Ein weiterer Vorteil ist, dass sich beide Lehrkräfte gut untereinander vertreten können: Im Krankheitsfall können Kollegen die andere Klasse übernehmen und beide Zwillingklassen gemeinsam unterrichten, denn es ist ein großer »Sozialkörper«, der als Ganzes genauso gut funktioniert. Nicht nur die Schüler kennen sich untereinander und können miteinander arbeiten, auch die Lehrer kennen beide Klassen und wissen mit ihnen umzugehen. Ebenso kann beim Zusammenlegen ein cleveres Co-Teaching entstehen. So können sowohl Projekte als auch Hauptunterrichte kreativ gestaltet werden.

Und die Kinder in der Praxis

Als wir im vergangenen Frühjahr den Pausenhof unserer damals ersten Klasse pandemiebedingt trennen mussten, ist mir klar geworden, wie gut das Konzept Zwillingsklasse funktioniert. Die Kinder haben ihre Freunde aus der Zwillingsklasse gesucht und wirkten beinahe aufgeschmissen, als sie eine Pause »alleine« verbringen mussten. Die beiden Zwillingsklassen harmonieren also tatsächlich miteinander und obwohl sie im Hauptunterricht getrennt sind, fühlen sie sich als eins. Und nichtsdestotrotz hegen, pflegen, lieben und schätzen sie ihren eigenen, kleineren Klassenkörper. Die Fachlehrer, die ab der zweiten Klasse gemischte Gruppen unterrichten, berichten davon, dass sie teilweise gar nicht wissen, welches Kind aus welcher Klasse kommt. Sie ergänzen sich einwandfrei und genießen es, nach dem Hauptunterricht in ihre Fachunterrichtsgruppen zu wechseln. Als Klassenlehrer erlebe ich, wie die Kinder davon profitieren, zwei enge Bezugspersonen zu haben. In unserem Fall genießen sie nicht nur das Privileg, zwei verschiedene Fachbereiche, sondern auch unterschiedliche Vorbilder als Lehrkräfte zu erleben. So wird jedes Interessenfeld abgedeckt.

Ebenso ist es eine enorme Erleichterung für uns, unser Hauptaugenmerk auf eine kleine Klasse richten und gleichzeitig die Kinder von zwei verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten zu können. Bei Planung und Gestaltung zusammenzuarbeiten, hat sich bisher bewährt. Auch wenn mehr Gespräche stattfinden müssen, können wir den Kindern ein vielfältigeres und umfangreicheres pädagogisches Angebot mitgeben – und das bei geringerem Arbeitsaufwand.

Aussichten

Das Zwillingsklassenkonzept ist noch in der Pionierphase. Es ist zwar weitestgehend ausformuliert, entwickelt sich aber dennoch immer weiter. Ab der sechsten Klasse wird das Co-Teaching eine immer größere Rolle spielen und in der Oberstufe werden wir den Jugendlichen ein breiteres Angebot an Förderunterricht geben können sowie mehr Möglichkeiten zur Kursbelegung und zur Förderung individueller Interessen.

Zum Autor: Timo Nattermann ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Vaihingen/Enz