Digitalisierung und neue Medien im Unterricht

Sibylla Hesse, Erich Benesch

Während ein Waldorfschüler noch vor einer Generation alles von Hand schrieb und herstellte, setzen heute viele Schüler technische Mittel ein. Der von der Industrie beworbene Einsatz von Tablets weckt in Waldorfkreisen Vorbehalte – zu Recht, wenn es Kinder betrifft. Andererseits können wir uns den medialen Entwicklungen nicht verschließen – wir schreiben ja heute auch nicht mehr mit dem Gänsekiel.

David Gelernter, Professor für Computerwissenschaft, äußert sich in der FAZ vom 19.10.2011 skeptisch über neue Medien in Kinderhand: »Moderne Computer, große oder kleine, sind wunderbar – für Jugendliche und Erwachsene. Aber bei einem Kind würde ich warten, bis es vierzehn oder fünfzehn ist. Ich würde ihm ein einfaches Handy geben, damit es zu Hause anrufen und notfalls mit seinen Freunden sprechen kann, und es ansonsten zum Spielen rausschicken.« Denn »digitale Spiele geben der kindlichen Phantasie nichts zu tun, geben ihr kein Seil, an dem sie hinaufklettern kann, denn sie sind passiv, unterwürfig, gehorsam.«

Gelernter befürchtet, dass die Aufmerksamkeitsspanne bis zum nächsten Klick so gering wird, dass Lernen zur Utopie wird. »Das Kind wartet gespannt auf den Klingelton und die allerneueste SMS, es ist immer bereit, sich unterbrechen zu lassen, um seine Zeit auf möglichst viele unterschiedliche Weisen zu vergeuden.« Da unsere westliche Zivilisation auf dem Weg zu einer netzbasierten Bildung ist, müssen wir im Umgang mit der digitalen Welt Standpunkte finden und begründen, auch künstlerisch erziehende, denn Technik kann keine pädagogische Verantwortung tragen.

Schultrojaner versus Wissensallmende

Die Leistungsgesellschaft stellt immer höhere Ansprüche an Lehrer. Sie sollen für möglichst alle Lernenden individualisierte Lehr- und Arbeitspläne bereitstellen. Wo aber kommt all das Unterrichtsmaterial her? Die Verwendung von Schulbüchern liegt nahe – oder eben die Nutzung digitalen Materials. Das erscheint auf den ersten Blick schwierig, denn die Schulbuchverlage zieren sich, etwas aus ihrem Sortiment kostenlos ins Netz zu stellen, sie müssen verdienen. Den Kampf, das eigene analoge Geschäftsmodell zu retten, verlor der papierene Brockhaus gegen die digitale Wikipedia. Fast wäre der Verlagseinfluss so weit gegangen, dass auf Schulrechnern eine Software installiert worden wäre, die nicht lizenzierte, also illegale Kopien aus Schulbüchern finden und zurückmelden sollte. Schulvertreter beklagten den Generalverdacht, unter den Lehrer somit gestellt sind, und der Trojaner wurde gestoppt. Das Problem tritt bei freien oder Open-Source-Angeboten nicht auf, etwa bei kostenfreie Webseiten von Fachforschern, die sich zunehmend für das soziale und historische Prinzip der Allmende einsetzen. Sie fordern emanzipatorisch-demokratisches Zugangsrecht zu Wissen für Jedermann. Zu Politik und Zeitgeschichte bietet die Bundeszentrale für politische Bildung kostenfrei Materialien im Online-Zugriff an. Die Potsdamer Waldorfschule beteiligte sich letztes Schuljahr an einem Forschungsprogramm, für das Websites mit Schüleraugen getestet werden. Ihre Sicht als künftige Bürger und Steuerzahler zählt.

Medienprojekte für digitale Eingeborene

Technik fasziniert und die Hersteller haben im Verbund mit der Medienindustrie großes Interesse daran, ihre Konsumenten möglichst früh an sich zu binden – über Mode, Status, Gewohnheit bis hin zur Sucht. Da bietet jeder Schulhof ein großes Einfallstor. Für Lehrer und Eltern empfiehlt es sich daher, das Knöpfchendrücken durch eine allgemeine Medienkunde systematisch zu konterkarieren. Uwe Buermann vom IPSUM-Institut wirkt mit am Waldorf-Curriculum zu Informatik und Computerkunde in der Oberstufe. Er fordert Kenntnisse ab der Mittelstufe, weil man sonst bei den pubertierenden Jugendlichen mit dem Thema zu spät kommt.

Dabei gilt es den medialen Lebensbedürfnissen erzieherisch gerecht zu werden und sie nicht zu verteufeln, sondern die Medien intelligent zu nutzen und den Unterricht partizipativ aufzubauen (»Betroffene zu Beteiligten machen«).

»Ich hab’ da eine Sendung gesehen …«

»Ich hab’ da neulich eine Sendung gesehen …« Mit diesen Worten beginnt manch ein Beitrag eines Schülers, der uns zeigt, dass Pädagogen kein Monopol auf Informationsvermittlung haben. Es gibt virtuelle Konkurrenz und Dozenten aller Art in den Medien. Oft zeigt sich, dass entweder das aus dem Fernsehen Behaltene oder das dort Präsentierte einseitig oder in dieser Form nicht korrekt ist. Besonders bei geschichtlichen Ereignissen wird das deutlich. Sie werden durch Zeitzeugen personifiziert, bebildert, um authentisches Quellenmaterial bereichert und mit Musik untermalt – Dokutainment. Wenn Schüler selbst einmal die Gelegenheit hatten, einen historischen Dokumentarfilm zu drehen und sich mit dem Problem der Manipulation auseinander zu setzen, sehen sie solche Filme wesentlich kritischer. Das zeigte unser Projekt »Der steinerne Horizont«.

Klicken statt verstehen?

Mancher Jugendliche mag denken: »Wieso lernen? Das kann ich doch jederzeit googeln!« Die Erfahrung in einer Abiturklasse zeigt jedoch, dass sogar die Älteren nicht das Gewünschte finden oder sich bei der Suche verzetteln. Letztere muss, ebenso wie in der Bibliothek, gezielt erübt werden. Marcus Lindemann vom Medienmagazin »Journalist« beschreibt Rechercheregeln in der digitalen Redaktion von heute, zum Beispiel »Wehe dem, der nicht filtern kann!«, und warnt vor den falschen »Freunden in Facebook«.

Erwachsene Profis kämpfen mit denselben digitalen Problemen wie Schüler auf einem Terrain, das ihnen neu und fremd ist. Essenziell erscheint das Zeitmanagement, um sich nicht ablenken zu lassen, Zeitfresser zu erkennen und sie auszuschalten. In allen Medien bildet das Verstehen die Grundlage. Man braucht Wahrnehmungsübungen für eine »Technik gesteigerter Gegenwärtigkeit« wie die von Wolfgang Held unter dem Titel »Zukunftswerkstatt« beschriebene: gegen das Abspulen von Urteilsgewohnheiten, erst für ein tatsachengeleitetes Hören und Sprechen, dann ein einfühlsam vertieftes Zuhören und Antworten, wie es uns »Momo« lehrt, bis zu einem schöpferischen Kommunizieren. Held zitiert den blinden Widerstandsjournalisten Jacques Lusseyran, der das Sehen mit dem Herzen beschreibt und das Hineinhören in das Universum. – Medienübergreifend unverzichtbar bleibt das Erlernen von Methoden, um selbst Texte zu verfassen und Wichtiges von Beiwerk zügig zu unterscheiden. Journalistische Übungen etwa für den wöchentlichen »Schulboten« schon in der Mittelstufe können zu reicherem Wortschatz, einer sicheren Stilistik und kritischer Lektüre führen. Dazu ist es hilfreich, Texte immer wieder zu überarbeiten und in verschiedene Formate zu bringen.

Mediale Ausstrahlung

Waldorfschüler schreiben ihre Schulbücher selbst, in jeder Epoche aufs Neue. Aber sie könnten auch im Netz mitarbeiten. Oberstufenschüler können unter Anleitung an einem Wikipedia-Artikel arbeiten, um nach dem Motto »Wir sind das Netz!« selber etwas für die Informationsqualität in kollaborativen Medien zu tun. Eine Schule könnte ihre Portfolio- und Projektzeit fächer- und methodenübergreifend unter Ausnutzung von »P2P« nutzen, also des Lernens von und mit Peers (Gleichaltrigen). Lerntechnologien lassen sich auf Dauer kostenfrei mit Open Source kombinieren, gemeinnützig verbreiten, international anwenden und ihre Ergebnisse teilen. Einen Einstieg bieten die Digitalen Schultaschen auf USB-Stick, Moodle als ein geschützter, selbst auszugestaltender virtueller Klassenraum auf dem Schulserver oder eTwinning für kulturübergreifende Lernprojekte im kontinuierlichen Online-Austausch zwischen Europas Schulen. Freie Werkzeuge zur Projektkooperation für globale Teams lassen sich für interkulturelles Lernen umnutzen und kombinieren mit eigenen online-Sprachübungen, etwa über »Hot Potatoes« generiert. Digitales Gerät stellt interkulturelle Werkzeuge bereit, man kann Schnittstellen-Technik gestalten, die sogar Hör- und Sehbehinderte inkludiert.

Wie wäre es mit dem Schülerpraktikum bei der Lokalzeitung, Schulradio oder Bürgerradio? Dabei lernt man die Sprachgestaltung und die Stimmbildungsübungen aus dem Schulchor schätzen. Als Sendung im Bürgerradio oder als Podcast kann das Klassenspiel der Jugend in der Region eine Stimme geben und über die Waldorfschule hinausstrahlen. Fehlen noch die gut gemachte Schülerzeitung als Weblog, Hörspiele und der Poetry-Slam im freien Internetradio.

Partizipation

Die Arabellion hat uns deutlich die aktuellen Wege der Kommunikation in der Jugend eines unzufriedenen Volkes gezeigt. Zu Demonstrationen aufrufen, Informationen über drohende Gefahren weitergeben, Meinungen weltweit austauschen – so entsteht eine neue Form der Revolution, getragen von vernetzten Individuen, die für uns solidarisierungs- und kontaktfähig ein Gesicht bekommen.

Auch Europäer, die der kritischen Mediennutzung mächtig sind, können das Netz als politisch sinnvolles Instrument nutzen, weil es nicht nur Informationen aufbewahrt, sondern auch Wege der Rückkoppelung an das regierende Personal bereithält. Ein Beispiel dafür sind die ePetitionen, die man mitzeichnen kann.

Das geht auch bei Waldorfs: In Potsdam wird zwischen den Konferenz-Donnerstagen die kleine eKonferenz per E-Mail »an alle« genutzt, etwa bei Beurlaubungsgesuchen von Eltern oder Schülern. Damit entlasten wir die große Runde – und gewinnen Zeit, unsere großen Erzählbögen vorzubereiten im Vertrauen auf die offline-»Medien« Sprache und Lehrerpersönlichkeit.

Zu den Autoren: Erich Benesch und Sibylla Hesse sind Geschichtslehrer in Potsdam.

Literatur:

Sven Saar: Computerepoche ab der Fünften, Erziehungskunst, Heft 2/2012 | Marcus Lindemann: Gekommen, um zu bleiben. Google? Mach ich. Twitter? Kenn ich. Facebook? Irgendwie banal. Warum Journalisten – selbst im Jahr 2012 – lernen sollten, das Netz besser zu verstehen, JOURNALIST, März 2012 | Wolfgang Held: Zukunftswerkstatt Landwirtschaft, Das Goetheanum 17/18, 2011

Links:

http://werkstatt.bpb.de/category/partnerschulen | www.erziehung-zur-medienkompetenz.de | http://www.zeitzeugen-tv.com/cmpgn/Mauer-Potsdam.html | www.medienzentrum-kassel.de/kasseler-schulen-am-netz/digitale-schultasche | http://hotpot.uvic.ca/ | http://wiki.zum.de/ | http://schoolradioday.de/ | http://www.schulradio-network.de/ | http://www.etwinning.de  | http://moodle.org/