Eine neue Paradies-Geschichte. Paulines Achtklass-Arbeit

Evelyn Thomas

Im Laufe meiner Zeit als Klassenlehrerin erlebte ich, wie Kleider genäht, Seifen und Pralinen hergestellt, Betten, Schreibtische, Skateboards und entsprechende Rampen gefertigt, eine Drohne oder ein Computer entwickelt und gebaut wurde.

Da gab es Felix, der einen Vortrag über sein selbst geschriebenes Buch in der Rolle eines erfahrenen Schriftstellers hielt. Da gab es Paul, der sich vorgenommen hatte, das Planetensystem in den richtigen Proportionen zu zeigen und als er alle Planeten als Styroporkugeln hergestellt hatte, merkte, dass unsere Aula für die entsprechenden Entfernungen viel zu klein war. So schickte er uns in unserer Vorstellung bis zur nächsten Bushaltestelle und schließlich bis zum Brandenburger Tor. Und es gab Sophie, ein Mädchen, dem das Lernen Mühe machte, und die zu unserer Überraschung mit großer Selbstverständlichkeit und lauter, klarer Stimme erklärte, wie sie mit ihrem Großvater eine alte Standuhr restauriert hatte. Und dann gab es in diesem Jahr Pauline. Noch in der siebten Klasse kam Pauline und fragte, ob sie als Achtklass-Arbeit ein neues Paradeis-Spiel schreiben dürfe. Die Fassung der Oberuferer Weihnachtsspiele, die wir Lehrer wenige Jahre vorher für die Schüler aufgeführt hatten, hatte sie als langweilig und antiquiert empfunden und sie wollte etwas Neues entwickeln.

»Ich denke, mich interessierte hauptsächlich eine neue Interpretation … Für mich … ist Gott auch ein Mann (aber er ist sicher nicht so, wie er in der Bibel dargestellt wird) … Für manche Leute ist Gott vielleicht eine Frau ... Ich weiß es nicht, doch finde es gut so, denn wie langweilig wäre es denn, wenn jeder Mensch die gleiche Meinung hätte? Nur vor denen muss man sich in Acht nehmen, die das Andere nicht akzeptieren (ein anderer Glaube, ein anderes Aussehen, ein anderes Geschlecht …)«

Ich akzeptierte ihr Vorhaben und es begannen spannende Monate. Nachdem Pauline die Schöpfungsgeschichte von Caroline von Heydebrand gelesen hatte, wandte sie sich der Bibel zu. Die Erzählungen aus der Bibel in der dritten Klasse waren bei ihr in Vergessenheit geraten, alles war wieder neu für sie. Pauline wollte nicht nur die Geschichte von Adam und Eva neu darstellen, sie nahm sich die gesamte Schöpfungsgeschichte vor. Das Spiel sollte nicht nur eine neue Sichtweise vermitteln, sondern auch unterhaltsam sein, sowohl vom Theatralischen als auch vom Sprachlichen her. Und Pauline legte los.

PROLOG

Schließ die Augen.
Ja, genauso sah es aus,
bevor der sagenumwobene »Gott«
die Welt »erschaffen« hat …

Einer der ersten Schritte von Pauline war, mehr Engel in das Spiel einzubeziehen. Sie suchte nach Namen, Bedeutungen, Möglichkeiten. So tauchten schnell Michael, Raphael und Uriel auf, aber auch noch andere. Wie viele Gespräche und Telefonate Pauline und ich führten, wissen wir beide nicht mehr! Doch eines war immer klar: Pauline war es sehr wichtig, bei allen ihren Ideen niemanden in seinem religiösen Empfinden zu verletzen; ihr Stück sollte eine Möglichkeit darstellen und die Zuschauer unterhalten – nicht mehr und nicht weniger.

Bild 1

GOTT sitzt auf der Bühne in einem Sessel. Man kann ihn nicht erkennen, denn er ist nur eine in Tücher gewickelte Gestalt. Eine andere ähnlich gekleidete Gestalt steht neben ihm; es ist der Engel MICHAEL. Vor den beiden steht der Erzähler und macht das mit dem Begrüßen.

ERZÄHLER | Grüasma den hohen Gott, grüasma euch Zuschauerlein und …

GOTT | Och, Kurzfassung, mein Lieber.

ERZÄHLER | Grüßen wir alle.

GOTT | Gute Arbeit, mein Lieber, husch husch!

Erzähler zieht beleidigt ab. Gott kommt gleich zur Sache.

GOTT | Mein lieber Michael, seit geraumer Zeit habe ich ein Bild vor Augen. Ein Bild mit Leben, Geräuschen, gleißendem Licht und Dunkelheit. Es lässt mich nicht los! Außerdem ist mir sehr langweilig und ich brauche etwas, woran sich meine Augen erfreuen können. Darum werde ich meine Idee jetzt umsetzen.

Michael räuspert sich.

MICHAEL | Ich verstehe nicht ganz …

Gott ist etwas genervt.

GOTT | Musst du auch nicht, dennoch wollte ich dir mitteilen, was ich vorhabe.

ERZÄHLER | Und nun machten sich die Engel ans Werk.

Vorhang auf. Geschäftig wuseln Engel über die Bühne mit Blättern, Stiften und Klemmbrettern. Michael sitzt an einem Schreibtisch und sieht sich Zeichnungen von Tieren an. Neben ihm steht ein überfüllter Mülleimer, worin die aussortierten Tiere sind. Die ausgewählten Tiere werden an die Tafel gehängt.

In Bild 2 bis Bild 9 werden dann die ersten fünf Schöpfungstage gezeigt. Es gibt Biologie-Engel für die Pflanzen und Tiere. Es gibt Engel, die nicht gut zeichnen können, die aber dafür geschickt das Problem von Sonnen-, Monden- und Sternenlicht lösen. Kleine Ungeschicke geschehen und es gibt Engel, die erfolglos versuchen, Gott hinters Licht zu führen.

Und dann taucht Judika auf. »Sie sieht anders aus als die anderen Engel.« (Gibt es weibliche Engel? Sind Engel per se männlich? Paulines Verwirrung war beträchtlich. Doch sie »erschuf« Judika – »Gott schaffe mir Recht«).

Judika spielt eine wichtige Rolle, denn Gott hat ein Problem. Nein, eigentlich hat er zwei Probleme: Erstens kann er, der Adam nach seinem Bilde erschaffen will, sich kein Bild von Eva machen. Und zweitens kämpft er mit einem Rätsel, das ihm Raphael gestellt hat.

Es folgt ein Ausschnitt aus Bild 10:

GOTT | Warum kann ich sie denn nicht zeichnen! Das kann doch nicht so schwer sein, einen weiblichen Menschen zu zeichnen! Und dieses Rätsel von Raphael! Warum heißt es »der Mond« und »die Sonne«? Warum heißt es »der Mann« und »die Frau«? Natürlich, weil es männliche und weibliche Wesen sind. Aber was hat das mit Judika zu tun? Oder wie er es will: »Ich heiße Judika, DIE andere«. Warum denn DIE? Das ist doch ein weiblicher Artikel! Und es gibt nur männliche Engel …
Auf einmal Raphael hinter Gott.

RAPHAEL | Und wenn es nicht so wäre?

GOTT | Ahhh! Habe ich dir nicht verboten zu teleportieren?

RAPHAEL | Das hast du, dennoch hielt ich es für meine Pflicht, dich endlich zu befreien.

GOTT | Von was denn befreien?

RAPHAEL | Von dem Festhalten an vergangenem Glauben!

GOTT | Was meinst du denn damit?

RAPHAEL | Ich meine damit, dass es idiotisch ist, an einem Glauben festzuhalten, wenn man es besser weiß! Öffne dich doch, bitte! Mach dich frei von der Vergangenheit! Überall, wirklich überall gibt es zwei Teile! Erkenne doch endlich das weibliche Geschlecht an! Es gibt weibliche Engel! Überall!

Nun darf Judika die Eva »entwerfen« und Adam und Eva werden erschaffen. Gott zeigt ihnen dann das Paradies und verbietet ihnen, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Über die Todesandrohung sind beide sehr erschrocken, aber …

Bild 16

Gott und die Erzengel stehen auf einer Terrasse und schauen aus dem Himmel auf das Paradies, wo Adam und Eva wieder fasziniert auf den Baum der Erkenntnis blicken.

GOTT | Seht ihr, sie haben den Köder geschluckt!

MICHAEL | Ja aber, wo ist darin der Sinn? Warum willst du sie anstacheln, deine Anweisungen zu missachten?

GOTT | Du fragst dich, was dabei der Sinn ist! Erkennt ihr es denn alle nicht?!

Die Erzengel schütteln den Kopf.

GABRIEL | Regeln sind eigentlich da, um sie zu beachten …

GOTT | Und macht man es … nein! Welcher der kleinen Engel hält sich an deine Anweisungen, Michael? Und wann sind Hanno und Samu einmal still, wenn ich sie darum bitte? Nie!

GABRIEL | Na und? Willst du denn, dass Adam und Eva unfolgsam sind?

GOTT | Ja, genau das will ich!

RAPHAEL | Den Grund dafür verstehe ich noch nicht ganz.

GOTT | Sonst bist du es doch, der in Rätseln spricht!

URIEL | Los! Raus damit!

GOTT | Der Mensch, ein Wesen, welches sich hinter anderen versteckt? Sich nicht traut, seine Meinung zu sagen? Keinen eigenen Willen hat? Nein! Ein selbstständiges, ehrgeiziges, starkes, intelligentes Wesen, das Herr über sich selbst ist! Das ist der Mensch, mit den Fehlern, die auch er machen wird.

JUDIKA | Ist es eine Prüfung? Eine Prüfung, ob sie so sind, wie du es willst? Du möchtest sehen, ob sie diese Fähigkeiten haben? Ob sie es alleine auf der Erde schaffen?

GOTT | Genau, so ist es. Sollte ich sie denn an einen Ort schicken, wo sie ohne diese Eigenschaften völlig aufgeschmissen wären? Das wäre aber gar nicht göttlich!

RAPHAEL | Was wirst du tun, wenn sie sie nicht besitzen?

GOTT | Dann werden sie dort bleiben, wo sie sind …

In die Diskussion von Adam und Eva über Gottes Verbot platzt die Schlange herein (wie sich später herausstellt, ein verkleideter Engel) und sagt ihnen, dass nur sie selbst entscheiden, was sie tun. Und so:

…….

ADAM | Das ist doch Selbstmord, Eva!

EVA | Quatsch, Adam, das hatten wir doch schon. Gott würde uns niemals etwas antun. Das würde doch keinen Sinn machen! Er will uns nur ein bisschen Angst machen. Adam, komm schon! Das hier ist nicht das echte Leben!
ADAM | Woher willst du das denn
wissen!

EVA | Gott ist doch nicht so ne lahme Socke!
ADAM | (erschrocken) Eva!

EVA | Wenn Gott das hier Leben nennt, dann ist er doch wohl eine lahme Socke! Doch das ist er nicht, da bin ich mir soooo sicher!

ADAM | Du glaubst, das hier ist eine
Art Prüfung?

…….

Dass Eva sich beim Abbeißen vom Apfel heftig verschluckt, ruft einen großen Schrecken bei allen Anwesenden hervor, aber dann ist es so weit.

Bild 20 (Das Tor zur Erde)

Der Erzähler steht vor einem Loch im Paradies, wo eine Leiter herunterführt.

ERZÄHLER | Das hier, genau vor mir, ist das »Tor zur Erde«. Hierdurch werden Adam und Eva gleich das Paradies verlassen. Eigentlich schade, ich habe sie sehr gemocht, aber wie Eva meinte: »Das hier ist nicht das echte Leben!« Ah, da kommen sie …

Adam, Eva, Hanno und Michael treten auf.
MICHAEL | Nun denn, das ist das »Tor zur Erde«. Das ist der Weg in das Leben.
EVA | Wow, ein Abenteuer …

MICHAEL | Ja, das wird es sein, ganz bestimmt … Nun, Adam, beginne dein Leben.
Adam klettert die Leiter zu Eva herunter, die schon wartet. Vorhang zu. Verbeugen. ENDE

Während der Zeit, in der Pauline an diesem Stück schrieb, fragte sie mich oft, ob sie dies oder jenes so schreiben könne und ich ermutigte sie eigentlich immer dazu, ihre Ideen umzusetzen. Immer wenn ich einen Abschnitt zum Lesen bekam, war ich beeindruckt von der Fülle und Tiefe ihrer Gedanken. Eine 14-Jährige, die ein neues Paradeis-Spiel schreiben will, die sich über Gott, Engel und das Leben solche Gedanken macht! Und hier folgt jetzt noch meine persönliche Lieblingsstelle (Erschaffung Adams):

Gott beugt sich nach vorne, ganz dicht vor Adams Gesicht.

HANNO (flüstert) | Ey, der küsst den gleich!

SAMU (flüstert) | Quatsch!

JUDIKA (flüstert) | Er haucht ihm eine unsterbliche Seele ein.

JUKKA (flüstert) | Was haucht er ihm ein?

JUDIKA (flüstert) | Eine Seele, eine Seele, die unsterblich ist. Das heißt, dass seine Seele immer lebt, egal in welchem Körper er steckt oder ob er überhaupt einen hat. Seine Seele lebt immer.

Solange wir solche Schüler wie Pauline haben – müssen wir uns da um die Zukunft sorgen? Doch das Schlusswort soll Pauline selbst haben. Folgende Widmung stellte sie an den Anfang
ihres Textes:

»Ich habe diese Zeilen geschrieben für Leute, die sich auch auf andere Sichten einlassen können. Für die Leute, die loslassen können. Die Leute, die sich öffnen können, für die eine neue Zeit heranbrechen kann! Und besonders für die, die wissen, dass es egal ist, welche Farbe die Haut hat oder welchem Geschlecht man angehört oder an welchen Gott man glaubt oder ob man man überhaupt an einen Gott glaubt. Aber auch für die, die das alles nicht denken, denn sie werden nach diesen Zeilen vielleicht ihre Meinung ändern.«

Zur Autorin: Evelyn Thomas ist Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Havelhöhe, Berlin