Einsam und unter hohem Druck. Was geschieht in Halbleitern?

Wilfried Sommer | Herr Schulz, Halbleiter werden doch schon lange an Waldorfschulen im Unterricht behandelt. Wieso jetzt ein neues Projekt?

Florian Schulz | In den letzten zehn Jahren gab es große Fortschritte, Grundbegriffe der Elektrizität didaktisch so aufzuschließen, dass sie sowohl den phänomenologischen Unterrichtsansätzen der Waldorfschulen als auch dem Anspruch, aufeinander aufbauende Lernprozesse zu unterstützen, gerecht werden. Halbleiterphysik in diesen phänomenologischen Zugang zu integrieren, stand uns als Aufgabe bevor.

WS | Wo finden wir Halbleiter in unserem Alltag?

FS | Die Halbleitertechnik ist dabei, immer weitere Lebensräume zu besetzen. Neben dem Bereich der Computertechnik, der Smartphones und der sogenannten künstlichen Intelligenz, folgt jetzt mit dem Projekt selbstfahrender Autos auch die flächendeckende Beleuchtung mit LEDs. Die gesamte Technik basiert auf den grundlegenden Funktionen der Transistoren und Dioden, das sind Halbleiterbauteile, wie sie auch in fast allen integrierten Schaltkreisen und Chips zum Einsatz kommen.

WS | Wie ging man bisher mit Halbleitern um?

FS | Schon immer gab es im Physikunterricht und auch im Fach Informationstechnologie beim Addiererbau mit Transistoren die Schwierigkeit, zu verstehen, was in einem Halbleiterbauelement im Detail abläuft. Immer wieder mussten wir Lehrkräfte uns darauf beschränken, anzuschauen, was »so ein Ding« macht, wie es sich verhält, ohne einen Zugang zu den Vorgängen im Kristall selbst zu finden. In den vielen Kursen der Lehrerfort- und -ausbildung musste ich stets passen, wenn die Frage aufkam, wie wir in einem phänomenologischen Physik­unterricht mit den Halbleiterfragen umgehen sollten, sind die elektrischen Leitungsvorgänge dort doch prinzipiell anders als in Metallen. Über die Jahre hat mich das Thema aber nicht losgelassen und als ich die Farbspektren von Leuchtdioden anschaute, fand ich einen ersten Schlüssel, dem Geheimnis näher zu kommen: Statt einzelner Linien im Spektroskop tritt ein breites Band, ein ganzer Bereich an Helligkeit der entsprechenden Farbe auf. Eine ähnliche sogenannte Linienverbreiterung kann man beobachten, wenn in einer Metalldampflampe, wie den gelben Natriumdampfhochdrucklampen (Natrium ist ein Metall), die man an Zebrastreifen oft findet, bei Erhitzung der Druck steigt.

WS | Worin besteht das Neue in Ihrem Blick auf Halbleiter? Was ist an Ihrem Ansatz originell?

FS | Die elektrischen Vorgänge im Halbleiter verhalten sich wie in einem Gas unter hohem Druck. Im Gas ist der Stoff mehr oder weniger frei beweglich, im Halbleiter wird im Herstellungsprozess in einen hochreinen Halbleiterkristall ein Fremdstoff eingeschleust. Er ist in seiner hohen Verdünnung räumlich fixiert, verhält sich aber elektrisch wie ein Gas. Während ein Gas durch ein Gefäß begrenzt werden muss, wird im Halbleiter das elektrische Gas durch den Festkörper selbst begrenzt oder gehalten.

WS | Was ist im Halbleiter mechanisch, was elektrisch?

FS | Elektrisch sind die Ladungszonen, deren Anbindung an den Fremdstoff man sich mechanisch vorstellen kann. Die Ladungszonen können wie elektrische Felder hin und her bewegt und so verschoben werden, dass eine mehr oder weniger starke Leitfähigkeit entsteht. Etwas Analoges gibt es in einer mit wenig Gas gefüllten Röhre: Bevor dort bei sukzessiver Erhitzung ein metallischer Kontakt, die Kathode, schmilzt und verdampft, dampft erst ein flüchtigerer negativer Teil heraus, die sogenannte Elektronenwolke. Diese schafft im Umraum eine aufgelöste elektrische Oberfläche, im Gegensatz zu der noch sichtbaren mechanischen Oberfläche der glühenden Kathode. Die aufgelöste, in den Raum hineinragende Elektronenoberfläche ist durch elektrische Felder veränderbar.

WS | Wie können Schüler die Unterrichtsinhalte zum Halbleiter verstehen?

FS | Die Unterrichtsinhalte werden ja durch mehrere Versuchsreihen unterstützt. Im Gegensatz zu einem theorie­geleiteten Ansatz über Modelle gehen wir hier über Wahrnehmungen und die an sie anschließenden inneren Bilder auf die Thematik zu. Das ist ein qualitatives Vorgehen und geht weit über eine rein reduktionistische Darstellung hinaus.

Denkt man zum Beispiel an Verdünnung und macht sich klar, wie wenig Substanz des Fremdstoffes im Halbleiter zur Wirkung kommt, entsteht ein bestimmtes inneres Bild. Oder denkt man an ein Eingesperrt-Sein in einem Kristallgitter, so drängt sich einem das innere Erlebnis eines hohen Drucks förmlich auf. Dazu die starke Verdünnung, wie eine gewaltige Einsamkeit. – Indem wir an seelisches Erleben anknüpfen, ebnen wir zugleich auch den Weg für ein Verständnis.

Schüler müssen neuem Stoff zuerst mit inneren, anschlussfähigen Bildern begegnen können und müssen sich – anders als die Lehrkräfte – nicht den unverstellten Blick erarbeiten, kennen sie doch das theoriegeleitete Vorgehen zu diesem Zeitpunkt des Unterrichts noch nicht.

WS | Was denken sie über LEDs?

FS | Die Verwandtschaft von LEDs zu leuchtenden Gasen unter hohem Druck ist hier offensichtlich und von daher ist am Prozess der Lichtentstehung nichts Kritisches zu bemerken. Das betrifft zunächst die einfarbigen LEDs. Für allgemeine Beleuchtungszwecke verwendet man allerdings blaue LEDs mit fluoreszierenden Schichten, die dann die entsprechende Farbigkeit erzeugen. Dabei wird das Blau als aggressiv und schädlich angesehen, so dass hier eine große Sorgfalt der Hersteller in der Filterung des Blauanteils nötig ist. So hängt für mich die Lichtqualität von der technischen Ausführung ab, der Lichtentstehungsprozess scheint mir aus physikalischer Sicht nichts Besonderes zu sein.

Zum Forschungsbericht: https://t1p.de/halbleiter

-> Was sind Halbleiter?

Stoffe verhalten sich elektrisch unterschiedlich.

Ihre Elektrisierung kann inselförmig vorliegen; abgeleitet von »isola« werden sie Isolatoren genannt. Andere Stoffe führen die Elektrisierung über den ganzen Stoff zusammen; ausgehend von »conducere« haben sich die Begriffe Konduktoren oder Leiter etabliert. Metalle sind elektrische Leiter, die meisten Kunststoffe elektrische Isolatoren. Halbleiter stehen mit ihren elektrischen Eigenschaften zwischen den Isolatoren und Leitern. Bei tiefen Temperaturen verhalten sie sich mehr wie Isolatoren, bei hohen mehr wie Leiter. Durch die Zugabe geringer Konzentrationen an Fremdstoffen (Dotierung) lassen sich ihre elektrische Eigenschaften variieren, ohne dass ihre Eigenschaft, ein Halbleiter zu sein, verschwindet. Silizium ist ein Halbleiter.