Klassenzimmer

Erzähl! Über eine vielschichtige Kategorie im Waldorfunterricht

Matthias Kirchhoff
Foto: © Neils Saksons / photocase.de

Soweit die Theorie – die keineswegs immer der Wirklichkeit im Unterricht entspricht. Je nach Temperament, Talent oder auch Überzeugung erzählt beileibe nicht jede Lehrkraft in dem Maße, wie es die Waldorf-Seminare oder -Lehrbücher empfehlen, gerade in der Oberstufe. Oftmals geht es im Klassenraum mehr um das Analysieren und Interpretieren als das performative Erleben der Unterrichtstexte – nicht zuletzt im Hinblick auf zukünftige Prüfungen. Nicht wenige Schüler:innen der Oberstufe fühlen sich zudem durch zu viel Erzählen bevormundet und ihrer rationalen Fähigkeiten beraubt. Es ist also eine pädagogische Grundsatzentscheidung, inwiefern das Erzählen im Unterricht Raum erhalten soll. Und dabei werden bisweilen unnötige Stereotype gegeneinander ausgespielt: die kindische »Märchenstunde« der Klassenlehrer:innen gegen die »verkopften« und »blutleeren« Philologen-Fachlehrer:innen der Oberstufe.

Vertrauen in den Erzählenden ist Voraussetzung

Erzählen ist aber immer mit dem einen wie dem anderen Aspekt verbunden. Es geht mir entsprechend um ein Konzept von Erzählen im (Waldorf-) Unterricht, das die Potenziale des anschaulichen Berichtens mit ihren theoretisch beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten verbindet. Daher möchte ich näher darstellen, dass im Unterricht durch die Beschäftigung mit dem Erzählen nicht nur – sehr plakativ formuliert – der »Leib« der physisch Zuhörenden und Mitlebenden, sondern später auch ihr analytischer »Geist« und nicht zuletzt die »Seele« klassischer literarischer Texte aktiviert werden. Hervorragende Bedingungen also für einen vielschichtigen Unterricht, der die Potenziale sowohl der Schüler:innen als auch des Unterrichtstoffes ausschöpfen will. Seinem Wesen nach ist Erzählen buchstäbliches Vergegenwärtigen von Vergangenem; daher wird normalerweise im Präteritum erzählt: »Es war einmal…« Ein gewisses Vertrauen in den Erzählenden, der das Abwesende zum Anwesenden macht, ist dabei Voraussetzung. Der Gewinn für den Zuhörenden, z.B. besseres Wissen und Verständnis, Gemeinschaftserlebnis, Unterhaltung oder Mahnung, schafft ein natürliches Wohlgefühl, das im Wesen des Menschen liegt – und das für den Unterricht fruchtbar gemacht werden sollte. Ebenso natürlich ist es aber, dem Berichteten keineswegs blind zu vertrauen, sondern es näher zu betrachten und daran hilfreiche Fragen zu stellen: Wer erzählt aus welcher Perspektive, was genau wird eigentlich auf welche Weise behauptet, kann ich dem Erzählenden und seiner Darstellung trauen …?

Mit der Fiktionalität kommt die »Lizenz zum Lügen«

Vertrauen und Misstrauen, naive Seelenhaftigkeit und analytischer Scharfsinn waren vermutlich schon immer nahe beieinander, wenn eine Begebenheit erzählt wurde. Und um wieviel mehr ist das der Fall, wenn in komplexen schriftlichen Texten die Kategorie der Fiktionalität dazukommt, also letztlich: die »Lizenz zum Lügen«.

Betrachten wir, um die vielschichtige Bedeutung des Erzählens näher zu veranschaulichen, einmal konkret die drei fixen Texte des Deutsch-Curriculums in Waldorf-Oberstufen: das »Nibelungenlied«, Wolframs von Eschenbach »Parzival« und später auch – obwohl es kein erzählender Text ist – Goethes »Faust«: Dies geschieht einerseits, um die Relevanz des Erzählvorgangs auch für die Schrift gewordenen Texte herauszustellen, zum anderen, um zu zeigen, wie sehr alle drei Stoffe durch den fortdauernden Prozess des Weitererzählens geprägt wurden. Die berühmte »Programmstrophe« zu Anfang des »Nibelungenliedes« handelt in ihrem Kern von nichts anderem als dem Erzählen, Weitererzählen und Zuhören:

Uns ist in alten mæren, wunders vil geseit,
von helden lobebæren, von grôzer arebeit,
von vröuden, hôchgezîten, von weinen unde klagen,
von küener recken strîten, muget ir nu wunder hœren sagen.

(Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares mündlich erzählt: Von lobenswerten Helden, großer Anstrengung, von Freudentagen und Festen, Weinen und Klagen und von Kämpfen kühner Männer könnt ihr jetzt Wunderbares vortragen hören.)

Es ist, wie der Sprecher darstellt, bereits in alten Erzählungen Wunderbares geseit, also mündlich erzählt worden. Das Uns zu Anfang macht dabei ebenso deutlich, dass die Erzählungen ein Band zwischen Erzähler und Publikum knüpfen und dass, wie die weitere Aufzählung deutlich macht, eine Menge Spannendes in ihnen steckt: Fantasy (wunders), Action und Abenteuer (küener recken strîten), Feste, Lachen und Trauer! Dadurch, dass der Sprecher nun seinerseits mündlich weiterberichtet (das Publikum kann hœren sagen), stellt er sich in die Tradition, tritt aber zugleich in Distanz zu den Zuhörern, indem aus dem Uns am Anfang der Strophe ein ir am Ende geworden ist. Die Erzählung legitimiert den Erzähler und verschafft ihm Autorität gegenüber dem Publikum: Erzählen, Weitererzählen, Staunen, Schweigen und Zuhören sind die Basis des »Nibelungenliedes«, so wie es vor über achthundert Jahren vorgetragen wurde. Nicht viel anders geht es vermutlich in vielen Klassenzimmern gerade bei jüngeren Waldorfschüler:innen zu.

Deutlich voraussetzungsreicher ist die Beschäftigung mit dem Erzähler im »Parzival«: Dort hat man es mit jemandem zu tun, der – wie üblich in mittelalterlicher Literatur – ausdrücklich mit dem Autor Wolfram von Eschenbach identisch ist. Zugleich gibt er aber allerlei von sich, das seine Aussagen durchaus fragwürdig macht: Er könne gar nicht lesen, sei auch weniger Dichter als Ritter, verstehe aber von Literatur und Frauen trotzdem immens viel, ferner würden in seiner Küche nicht einmal die Mäuse satt und im Übrigen habe er seine Geschichte weniger vom französischen Perceval des Chrétien de Troyes, an dem er herummeckert, als von einem nebulösen Gewährsmann namens Kyot, der wiederum auf einen weiteren Berichterstatter zurückgreife. So wie in der Handlung der Einsiedler Trevrizent, der sich – ohne ersichtlichen Grund – der Lüge bezichtigt, ist auch Wolfram ein durchaus unzuverlässiger Erzähler. Um den »Parzival« genießen zu können, muss man sich also die Mühe machen, Wolframs Worten nicht einfach eher passiv zu lauschen, wie es der Anfang des »Nibelungenliedes« nahelegt. Man wird den »Parzival« erst ausreichend würdigen, wenn man neben den Brüchen des Protagonisten und mancher Handlungsstränge auch die Brüche des Erzählers und seiner Art zu berichten kritisch mitvollzieht.

Jahrhundertelanges Stoffeweben

Produkte ständigen Wiedererzählens sind schließlich alle drei Epochenfixpunkte des Deutschunterrichts an Waldorfschulen – keiner dieser Texte wurde von einem Verfasser »ausgedacht«, so wie das heute meist bei Romanen der Fall ist. Das »Nibelungenlied« geht bekanntlich auf Ereignisse der Völkerwanderungszeit zurück. Über Jahrhunderte wurden Stoffe und Motive, etwa der Untergang des Burgundenstammes, neu erzählt, erweitert, mit anderem überblendet und verknüpft, bis schließlich ein Text aufs Pergament fand, den kein Individuum erfunden hatte, sondern der durch viele Jahrhunderte des Weitererzählens geprägt worden war. Das lässt sich im Epochenunterricht leicht durch ein Experiment mit dem alten Spiel von der »Stillen Post« veranschaulichen.

Beim uralten keltischen Erzählstoff rund um den König Artus, der dem »Parzival« zugrunde liegt, verhält es sich durchaus vergleichbar, wie es ja auch Wolfram von Eschenbach in seinem oben skizzierten, z.T. dubiosen Abriss seiner Quellen betont hat. Und was den »Faust« betrifft, so geht auch er auf das Weitererzählen eines historischen Kerns zurück, nämlich auf die Berichte von einem verrufenen Quacksalber des 16. Jahrhunderts, der ungefähr im Jahre 1540 – vielleicht bei einem alchimistischen Versuch – zerfetzt wurde und seither als Teufelsbündler durch mündliche Erzählungen geisterte.

Auch Goethes Drama ist – wie das »Nibelungenlied« und der »Parzival« – dem Wesen nach das Produkt ständigen Weiter-, Neu- und Umerzählens – und ohne diesen Prozess gar nicht vorstellbar. Was bringt uns das alles nun für unseren Unterricht? Jedenfalls soviel, dass Erzählen eine vielschichtige und vielleicht die zentrale Kategorie im Umgang mit fast jeder Form von Literatur ist.

Erzählen ist ein Kontinuum, das die Menschheitsgeschichte durchzieht

Erzählen ist eine vielschichtige und vielleicht die zentrale Kategorie im Umgang mit fast jeder Form von Literatur. Gerade, da Waldorfschulen das Prinzip des Spiralcurriculums anwenden – das bedeutet, dass ein Lerninhalt aus Unter- und Mittelstufe in der Oberstufe wieder aufgenommen wird – schließen ästhetisierte Erzählvorträge in der Klassenstufe und erzähltheoretische Analysen in der Oberstufe einander nicht aus und taugen erst recht nicht zum buchstäblichen »Klassenkampf«. Vielmehr sollte Literaturunterricht (zumindest der Oberstufe) den Versuch unternehmen, Erzählen als ein die Menschheitsgeschichte durchziehendes Kontinuum zu verstehen, in dem der emotionale Nachvollzug des Faszinosums Erzählen in Wechselwirkung mit seiner rationalen Erklärung steht. Denn was ich nicht faszinierend finde, möchte ich schwerlich verstehen, und was mir verschlossen bleibt, verliert oft genug seinen Reiz. Man muss sich, was das archaisch-moderne Phänomen des Erzählens betrifft, von diesem Spannungsfeld halt eben nicht schrecken lassen, sondern es vielmehr als Chance für attraktiven und nachhaltigen Unterricht verstehen. Man muss das archaisch-moderne Phänomen des Erzählens als Chance für attraktiven und nachhaltigen Unterricht verstehen.

Und noch einen Nachtrag: Einen konkreten Unterrichtsentwurf liefere ich absichtlich nicht. Wer das »dramatische« Erzählen als Unterrichtselement nicht mag (oder auch: sich noch nicht zutraut), sollte es nicht verwenden – die Begeisterung der Schüler:innen hängt schließlich an der spürbaren Freude und Sicherheit der Lehrkraft. Und wer im Unterricht Genette und Stanzel, Metadiegese, Prolepse und Zeitpause für verzichtbar hält, möge ruhig dabei bleiben. Wichtig ist immerhin nicht ein fixer Fahrplan zur Erschließung der Kategorie Erzählen, sondern das Bewusstsein, es mit einem komplexen Phänomen zu tun zu haben, das man auf vielerlei Arten, zu allen Zeiten und in allen Altersstufen faszinierend finden darf.

Zum Autor: Dr. Matthias Kirchhoff ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Freien Waldorfschule Schwäbisch Hall und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Literaturwissenschaft, Abteilung für Germanistische Mediävistik an der Universität Stuttgart.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.