Hausaufgaben sind meist überflüssig

Sven Saar

Ein Drittklässler sitzt mit der Mutter am Küchentisch. Er hat sein Heft und den Hausaufgabenzettel mit acht Rechenaufgaben vor sich: schriftliche Teilung. Leider hat er vergessen, wie der dritte Schritt geht: Die Lehrerin rechnet an der Tafel bei der Subtraktion von unten nach oben, die Mama erklärt es aber anders herum. Der Junge wird immer verwirrter, die helfenden Worte werden schärfer, schließlich kommt die gefürchtete Drohung: »Du darfst erst raus zum Spielen, wenn du fertig bist!«

Aus dem Spielen wird an diesem Nachmittag nichts: Die Stunden werden trotzend vertrödelt, die Mama hat längst aufgegeben, nach dem Abendessen geht der Papa noch mal ran, und jetzt gibt’s richtig Ärger: »Deine Lehrerin hat dir das falsch erklärt!« – »Hat sie nicht!« – »Dann musst du besser aufpassen!« – »Mach ich doch!« – »Und warum kannst du’s dann nicht?« – »Pass doch selber auf!« – »Sei nicht so frech!«

Die Eltern sind frustriert und das Kind heult nur noch herum. Die Hausaufgaben hat es nicht gemacht und wird deswegen morgen in der Pause drin bleiben müssen. Nachmittags geht dann wieder alles von vorne los. Es gibt in der Klasse auch Kinder, die haben alles verstanden und können es gar nicht erwarten, zu Hause mit dem Üben zu beginnen. Rechtfertigt der Enthusiasmus der einen das Leiden der anderen?

Warum sollen Kinder überhaupt zu Hause für die Schule lernen? Liegt es daran, dass wir Erwachsenen einen Achtstundentag abarbeiten und insgeheim neidisch auf ihren Halbtagsstatus sind?

Denn so einleuchtend, wie die Verfechter von Hausaufgaben es gerne hätten, ist die Beweislage nicht: Für jede wissenschaftliche Studie, die den bildungsrelevanten Nutzen von Hausaufgaben zu belegen sucht (zum Beispiel anhand von Abitur-Durchschnittsnoten), gibt es eine, die genau das Gegenteil zeigt – und das schon seit Jahrzehnten!

Was sind sinnvolle »Hausaufgaben«?

Es ist erzieherisch wichtig, dass ein Schulkind lernt, sein Pensum zu absolvieren. Begonnene Übungen, Texte und Illustrationen sollten, wenn sie in der Schule nicht fertiggestellt werden konnten, daheim vervollständigt werden. Die Logik dieses Prinzips leuchtet Kindern ohne Weiteres ein. Auch sollten vom Lehrer korrigierte Hefte zu Hause verbessert werden. Darüber hinaus gibt es im Leben zumindest von Waldorfschülern eine Menge von Lern- und Übanforderungen, die nur zu Hause erfüllt werden können. Das Stricken und das Einmaleins kann man nicht nur in der Schule lernen, die Flöte muss regelmäßig geübt werden, und dann ist da ja noch das Orchesterinstrument. Das Lesen von Büchern erfordert auch einige Zeit und ist jedenfalls am Anfang noch nicht reine Entspannung. Auch im Haushalt sollten Schulkinder zunehmend Verantwortung übernehmen und so zum Familienleben beitragen. Dann käme noch der Sportverein dazu …

Wenn man sich’s so überlegt, ist der Alltag unserer Kinder eigentlich ganz schön voll, auch ohne dass sie noch Aufgaben dazubekommen.

Auf alle oben angeführten Aktivitäten passt die Beschreibung »formales Lernen«. Das unstrukturierte, automatische Lernen durch soziales Spielen und Bäume erklettern, sei hier nur am Rande erwähnt, braucht aber mindestens ebensoviel Raum.

Individuelle statt kollektive Lösungen

Ich halte die Behauptung für anfechtbar, dass mit regelmäßigen Hausaufgaben ab der ersten oder zweiten Klasse gute Gewohnheiten angelegt werden. In meinen eigenen Klassen gab es freiwillige Aufgaben für die, denen das Spaß machte, und manchmal individuell verordnete Spezialaufgaben für einzelne Kinder. Ansonsten ging es nur darum, mit dem Epochenheft nicht in Verzug zu geraten. Oft hatte an meiner früheren zweizügigen Schule mein »Parallelkollege« eine andere Vorstellung als ich.

Nach der achten Klasse wurden dann die beiden Klassen zusammengelegt und neu gemischt. Die Oberstufenkollegen konnten, was das Arbeitsverhalten, den Bildungsstand und am Ende den Prüfungserfolg betraf, keinerlei Unterschiede feststellen …

Man darf nicht die Schwingen der Kinder stutzen, die vom Üben begeistert und beflügelt werden. Sie sollten gefüttert und gefördert werden, solange sie ihr Pensum gut bewältigen können. Zur gleichen Zeit sollte aber der Unterricht zumindest in den ersten sechs Klassen so gestaltet sein, dass Kinder nicht noch daheim zuarbeiten müssen, um überhaupt mitzukommen.

Zu groß ist das Risiko, dass man in den überforderten heranwachsenden Menschen die Arbeit zur Qual werden lässt. Das wäre das Gegenteil von dem, was Waldorfpädagogik beabsichtigt.