»Ich bin immer Ich«. Ingeborg Bachmann und Max Frisch

Christian Meyer-Radkau

Obwohl Frauen aus heutiger Sicht schon immer bedeutende Literatur geschrieben haben und auch endlich in den angesprochenen Bereichen inzwischen viel deutlicher hervortreten, bleibt zu fragen, ob diese Aussage sich auch im sogenannten Lehrplan für den Deutschunterricht in der Oberstufe an Waldorfschulen widerspiegelt. Gewiss sind auch hier weibliche Protagonisten anzutreffen, von Antigone (bei Sophokles und Anouilh) über Fontanes Effi und Salingers Franny (2) bis hin zu der »Roten« im Roman von Alfred Andersch. Allerdings gilt für diese Werke wie für viele andere auch: Sie sind von Männern geschrieben, maßgeblich ist ihre Wahrnehmung und Sicht auf die Frau. Das trifft auch für jene Frauengestalten zu, die darüber hinaus in den klassischen Büchern der Oberstufe vertreten sind, so z.B. Jeschute und Sigune (Parsifal), Gretchen (Faust) und Solveig (Peer Gynt), Sonja (Verbrechen und Strafe) und Sabeth in (Homo faber). Ihre Bedeutsamkeit als Wegbegleiterinnen und Wegweiserinnen für die Entwicklung des »höheren Ich« eines Parzival, Faust und Peer Gynt, eines Raskolnikoff und Faber steht außer Frage. Gleichwohl nehmen sie eher eine Nebenrolle ein, auf ihre Biographie kommt es nicht an, in ihnen spiegelt sich der Lebensweg der männlichen Gestalten wider.

Obwohl die entsprechenden Fragen, Motive und Entwicklungen in den angesprochenen Werken weit über eine geschlechtsspezifische Orientierung hinausgehen, bleibt doch offen, ob die angedeutete männliche Ausrichtung auch für Schülerinnen, für die Ausbildung ihrer biographischen Entwürfe, ihrer Selbstfindung und Identität – auch als Frau – ausreichend ist. Hier müsste sich der heutige Deutschlehrer auf den Weg begeben, die »latenten Fragen« seiner Schülerinnen aufzusuchen und diese in der entsprechenden Literatur, auch in einem »Kanon des Weiblichen«, in der Korrespondenz mit männlichen Protagonisten zur Sprache kommen lassen. Aus einer solchen pädagogischen Haltung könnte sich dann aktuell und situativ ein »Lehrplan« entwickeln – nicht als vorgefertigtes Programm.

Unbedingtheit und Unabhängigkeit

Ein Versuch in diesem Sinne soll andeutungsweise skizziert werden, der sich vorzugsweise auf das elfte und zwölfte Schuljahr bezieht, in dem die »Ich-Findung« bzw. die Frage nach der selbstständigen Gestaltung der eigenen Biographie eine immer größere Bedeutung gewinnt.

Wir behandelten in gleicher Gewichtung die Dichter Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Beide Autoren versuchen in ihrer Biographie und in ihren Werken, auf dem Weg der Auseinandersetzung mit ihrer Identität als Frau und als Mann, das Gemeinsame und Verbindende zu finden, auch in ihrer konkreten Begegnung und Beziehung, auch in deren Scheitern. Gerade Ingeborg Bachmann nimmt in dem vorgestellten Kontext eine besondere Stellung ein, die Frisch, nachdem er überhaupt das erste Mal ein Werk von ihr zur Kenntnis genommen hat, so formuliert: »Es ist wichtig, dass auch die Frau sich ausdrückt, wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau.« (3) So ist es nicht verwunderlich, dass Bachmann als eine Exponentin der »weiblichen Literatur«, einer »ecriture feminine« angesehen wird, auf die sich auch verschiedene Positionen des Feminismus, wie z.B. von Carolin Emcke (4) beziehen.

Bachmanns biographische Entwicklung kommt in ihren Lebenszeugnissen in vielfältiger Weise zum Ausdruck, so die in Elternhaus und Schule erfahrenen Kränkungen, die besondere Betroffenheit in der Reaktion auf historisch-politische Ereignisse (Faschismus, Wiederbewaffnung, Umweltzerstörung). So werden Lesen und Schreiben für die junge Bachmann Fluchtmöglichkeiten, die Schmerz und Trauer verarbeiten helfen und sich zu entlastenden Stärkungen des Ich verwandeln – eines Ich, das sich zugleich vortastet zu Gegenwelten, die im Widerspruch zur Wirklichkeit entworfen werden.

In diesem Sinne ist auch ein Gedicht der sechzehnjährigen Bachmann, sowohl in der Polarität zwischen Freiheitswillen und Eingeengtsein als auch als Unbedingtheitserklärung und Unabhängigkeitsresolution zu verstehen: Ihre Absolutheitsforderung und ihr Wahrheitsanspruch spiegeln sich auch in der Klarheit und Schönheit ihrer Sprache wider, z.B. in den Gedichten: »Freies Geleit«, »Die gestundete Zeit«, »Alle Tage«, »An die Sonne«. Sie werden aber auch zu Maximen in den Beziehungen zu anderen Menschen, namentlich in der vierjährigen Liebesbeziehung zu Max Frisch.

Noch über den schmerzhaften Bruch hinaus beziehen sich beide in ihren Werken aufeinander, geben Gefühle und Verwundungen preis, lassen die innere Verbindung nie abreißen.

Dabei haben Frisch Fragen nach den Beziehungen in der Biographie sein ganzes Werk hindurch beschäftigt – Biographie als Möglichkeit, als Entwurf, als Verwandlung zu denken. Am deutlichsten kommen diese in seinem Roman »Homo faber« zum Ausdruck. Der Protagonist Faber, dargestellt als »eindimensionaler Mensch« (5) – kontaktlos, naturlos, geschichtslos – ein Mann der Aktion, beginnt plötzlich mit der Reflexion unter der Voraussetzung der Zufälligkeit dessen, was ihm widerfährt. Je länger er jedoch alles niederschreibt, desto deutlicher tritt ein Sinnzusammenhang und ein Sinnverständnis hervor. Durch die Begegnung mit Sabeth, die er nicht als seine Tochter erkennt, und in der sich das Idealbild eines jungen Menschen widerspiegelt, was ihre Begeisterung, ihre Ideale und ihr Weltinteresse betrifft, bricht die innere Verkapselung auf, bahnt sich allmählich eine Lebenswandlung an. Aus dem Anschauen, dem Verständnis seines Lebens kommt er zu dem Entschluss, anders zu leben: »Leben im Licht, Eseltreiber mein Beruf«

Ingeborg Bachmann hat sich wenige Monate vor ihrem tragischen Tod noch einmal in einem Gespräch im Gestus eines Lebensrückblickes geäußert. Diese »letzten Worte« zeigen nach einer äußerst schwierigen Lebensphase eine überraschend gelöste Dichterin, die hier noch einmal die Hoffnung auf ein freieres Leben der Frau formuliert: »Die meisten Frauen brauchen eine Hoffnung, etwas, was man ihnen noch nie gesagt hat, dass sie fähig sind, genauso scharf zu denken wie die Männer, dass sie weniger eitel sind, dass sie kein Mitleid brauchen und zu jedem Opfer fähig sind. Es wird der Tag kommen, wo die Frauen und die Männer die Poesie ihres Geschlechtes wieder entdecken und frei sein werden.« (6)

Anmerkungen: 1. Iris Radisch: »Die Waffen der Frau«, Zeit-Literatur, Nr. 12, 2019 | 2. C. Meyer-Radkau: »Die Sternensucher von New York«, Erziehungskunst, 7/8 2010 | 3. Carolin Emcke: Wie wir begehren, Frankfurt 2013 | 4. M. Frisch: Montauk, Frankfurt 1975 | 5. H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Berlin 1967 | 6. I. Bachmann: Ein Tag wird kommen, Salzburg 2004

Zum Autor: Dr. Christian Meyer-Radkau, Klassen- und Oberstufenlehrer, Seminardozent, Lehrbeauftragter der Universitäten Hannover und Berlin.